Kulturschlachtung der Hohlköpfe

Saarbrücken · Das Cabaret Voltaire, das die Dadaisten am 5. Februar 1916 in Zürich eröffneten, war die Keimzelle einer durch und durch anti-bürgerlichen, verrückten Kunstbewegung, deren Wirkungsmacht enorm war. Die in Saarbrücken lebende Schriftstellerin Marcella Berger erinnert an die Anfänge der Dada-Bewegung und ihre großen kreativen Köpfe.

 Hans Arp mit Pappeinlage, 1922; Kurt Schwitters, lächelnd 1926. Fotos: Telebunk/Schwitters Archiv im Sprengel museum hannover/genja jones/dpa

Hans Arp mit Pappeinlage, 1922; Kurt Schwitters, lächelnd 1926. Fotos: Telebunk/Schwitters Archiv im Sprengel museum hannover/genja jones/dpa

Am 5. Februar 1916 eröffneten Hugo Ball und Emmy Hennings im Obergeschoss der Zürcher Spiegelgasse 1 - die Wohnung Lenins lag wenige Schritte entfernt - das Cabaret Voltaire. Parterre gab es schon eine Kneipe, aber im Obergeschoss sollte ein Treffpunkt für Emigranten entstehen, wie Hugo Ball später sagte. In Europa tobte ein mörderischer Krieg, viele junge Künstler und Intellektuelle waren vor dem Militärdienst in die neutrale Schweiz geflohen. Der neue Club war Kneipe, Galerie und Theater in einem und bot allabendlich Veranstaltungen: szenische Aufführungen und politische Manifeste, Tanz- und Musikdarbietung, Lesungen, Kabarett. An den Wänden Bilder von Modigliani, Arp, Picasso, Macke. Ball und seine Freundin Emmy Hennings waren zuvor monatelang als Kabarettisten durch die Schweiz getingelt. Zunächst waren sie es vor allem, die das Abendprogramm bestritten. Das änderte sich bald.

Unter dem Kreis der Akteure finden sich die späteren Dada-Größen Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck und Marcel Janco. Auch das Publikum ist ganz bei der Sache, manchmal bis zur Raserei. Im Cabaret Voltaire wird gegen Nationalismus, Militarismus und die am Krieg beteiligten Staaten agiert und agitiert. Doch zunehmend geht es auch gegen den bürgerlichen Kunstbegriff, das bürgerliche Denksystem, das Kultur als "Veronal für das Gewissen" (Huelsenbeck) missbraucht. Diese Kultur gilt es zu schlachten. Sie ist nichts anderes als der Versuch, den Krieg "mit Goethe und Schiller nach außen und innen zu rechtfertigen" (Huelsenbeck). Das Kultur-Schlachten, die Aktion auf der Bühne, wird zur Performance - einer Mixtur aus Tun und Vertun, simultan, satirisch und spartenübergreifend subversiv. Sie beschwingt die Nerven. Verhöhnt werden die Spektakel im Cabaret Voltaire von der Presse. Die Zürcher finden wenig Gefallen an dem Schreien, Schluchzen und Zertrümmern des bürgerlichen Instrumentariums und Mobiliars. Im Cabaret Voltaire wird allerdings auch dem schrägen Witz gehuldigt: Tristan Tzara und Marcel Janco, die beiden Rumänen, sind mit der Tradition des jiddisch-absurden Humors bestens vertraut und mithin resistent gegen Wahrheits- und Glaubenssätze. Das gibt Dada den subtilen Schliff.

Ab März präsentiert Hugo Ball seine Lautpoesie. Diese rein phonetische, akustische Dichtung ohne verständlichen Inhalt arbeitet mit der "Rohmasse" von Sprache: Vokale, Konsonanten, Buchstaben, Klang und Rhythmus. Wenn Ball seine Klanglyrik vorträgt, zelebriert er das mit theatralischem Gestus. Für die Auftritte entwirft er spezielle Kostüme. Berühmt geworden ist sein "magischer Bischof": Die Beine stecken in einem Säulenrund aus blauglänzendem Karton, der bis zur Hüfte reicht. Ein Säulenheiliger. Fußlos. Balls Vater war in Pirmasens Schuhfabrikant, die ganze Familie streng katholisch. Der Sohn wehrte sich, er wollte nicht in die Fußstapfen des Vaters treten. Das Theater stellt am Ende den Fluchtpunkt dar, erst in München, dann in Zürich, später in Berlin. Der magische Bischof, den er in der Spiegelgasse gibt, wird zum gefeierten Aha, Sinnbild der Dada-Morgendämmerung. Bei Ball ist die Anarchie von Mystik durchwirkt. Die Nachbarschaft fühlt sich durch die Happenings gestört. Beschwerden häufen sich, dem Cabaret Voltaire wird gekündigt. So zieht die Karawane weiter, in eine Galerie in der Zürcher Bahnhofstraße. In einem Flugblatt von 1918 - auch Dadaistisches Manifest genannt - wird Dada als "der internationale Ausdruck dieser Zeit", bezeichnet. "Mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte." Das Leben erscheine dem Dadaisten als simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, heißt es. Indem der Dadaismus alle Schlagworte von "Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile" zerfetze, schreiben Ball, Arp & Co, trete man dem Leben "nicht mehr ästhetisch gegenüber", was für alle Künste neue "und unerhörte Möglichkeiten des Ausdrucks" eröffne. Ihr Manifest schließt mit den Worten: "Gegen die ästhetisch-ethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für den Dadaismus in Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen in der Welt. Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!"

Alles passiert für den Dadaisten gleichzeitig und gleichberechtigt. Alltägliches, Geistiges, Unbewusstes. Den trivialen Gegenständen der Welt soll zu ihrem Recht verholfen werden. Alles kann Kunst sein. Jeder kann jedes Ding in den Rang eines Kunstwerks erheben. So wird aus der anarchistischen Aktion das anarchistische Ready-made. Das Objet trouvè, der gefundene Gegenstand, zum Kunstobjekt deklariert, beginnt sein sirenisches Solo. Das industriell hergestellte Trivialobjekt revolutioniert die (Kunst-)Welt. Marcel Duchamp gibt dem Industrieprodukt die Aura der Kunst: Flaschenständer, 1914. Drei Jahre später folgt das wohl bekannteste Ready-made der Kunstgeschichte: ein Urinal auf einem Sockel, "Fontäne" betitelt.

Hatten die Dadaisten ein positives Programm? Etwas, das über das Ja zum Nein hinaus ging? Das wird oft gefragt. Gegenfrage: Ist es nicht genug, lustvoll heilige Kühe zu schlachten? Die Freiheit, nichts zu glauben - ist das nicht alles? Und deshalb mehr als genug? Der Siegeszug war jedenfalls nicht aufzuhalten. Von den Zürcher Anfängen über Berlin und Paris bis nach New York, mit starken Ablegern in Hannover und Düsseldorf, veränderte diese Protestbewegung, die auch eine Jugendbewegung war, das kulturelle Selbstverständnis. Und radikalisierte sich zunehmend. Allerdings ging ihr spätestens ab 1923 der revolutionäre Atem aus, und schließlich wurde sie weitgehend von einer neuen Strömung absorbiert: dem Surrealismus. Aber bis dahin sorgte die quecksilbrige Dada-Intelligenz für frischen Wind im Kopf. Neben den zum Kanon der Weltliteratur zählenden Ikonen des Dada wie Kurt Schwitters' Gedicht "An Anna Blume" enthält der Band auch weniger Bekanntes: Das dreisprachige Gedicht "L'amiral cherche une maison à louer" - gemeinsam verfasst von Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Tristan Tzara - ist ein Fundstück. Es wird am 31. März 1916 in paralleler Lesung in Zürich uraufgeführt und enthält eine "Note pour les Bourgeois", in der die "Transmutation" von Objekten und Farben der ersten kubistischen Maler wie Picasso und Braque oder auch die visuellen Gedichte eines Apollinaire als "Vorarbeiten" heraufbeschworen werden.

Wenn Alfred Kerr Dada in Berlin als "Ulk mit Weltanschauung" bezeichnet, berücksichtigt er nicht die politische Seite der Bewegung. 1916, im Jahr von Verdun, schreibt Hugo Ball seinen "Totentanz", der mit den Zeilen "So sterben wir, so sterben wir/Wir sterben alle Tage" anhebt. Oder wenn Walter Mehring in seinem Couplet "Berlin simultan" die Zeilen singen lässt: "Die Juden raus! Die Bäuche rein!/Mit Yohimbim zum Massenmord/Hoch national der Klassenhort/Vom Fels zu Meer und Leichenstein", dann kehrt bitterer Ernst in das "achte Weltwunder", als das Dada sich selbst inszenierte. Kurzbiografien und eine knappe Geographie der Dada-Filialen machen den Band zum zuverlässigen Nachschlagewerk. Der Kulturjournalist Andreas Puff-Trojan und der Belgier H.M. Compagnon, Komparatist und Erforscher avantgardistischer Bewegungen, haben eine wunderbare Auswahl an Textbildern, Lautgedichten und Manifesten erstellt, die den Einfluss der Dada-Bewegung und ihre ästhetische Wirkungsmacht verständlich macht.

Dada-Almanach - Textbilder Lautgedichte Manifeste. Vom Aberwitz ästhetischer Contradiction. Hrsg. von Andreas Puff-Trojan und H.M. Compagnon; Manesse, 176 S., 39,95 €.

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