Klassik-Festival in Norddeutschland Mit Kultur ländliche Räume attraktiv machen

Schwerin · Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern sind eines der größten Klassik-Festivals im Land. Kleine Orte sollen vom Angebot profitieren.

  Das „Detect Classic Festival“ am vergangenen Wochenende in Neubrandenburg war Teil der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern mit insgesamt rund 180 Veranstaltungen bis 15. September.

Das „Detect Classic Festival“ am vergangenen Wochenende in Neubrandenburg war Teil der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern mit insgesamt rund 180 Veranstaltungen bis 15. September.

Foto: dpa/Oliver Borchert

„Gefällt es Ihnen?“ Die Augen der Mitarbeiterin im rost-orangenen T-Shirt leuchten, als ihr Blick durch die große Werkshalle der Eisengießerei Torgelow schweift, Stolz schwingt in ihren Worten mit. „Geiler Sound hier, oder?“ Zugegeben: Der Klang kann sich hören lassen, nicht minder eindrucksvoll die Bilder, die sich den fast 1000 Konzertbesuchern der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern (FMV) im vorpommerschen Hinterland bieten. Schwere Gussformen, meterlange Regale, auf denen feiner Eisenstaub glitzert, auf dem Boden Beutel voller Schlämmkreide, Ruß- und Schlacke-Haufen, Schaufeln, Besen und Schubkarren sowie Warnschilder, dass nicht nur während des Schmelzvorgangs bei 1350 Grad Celsius hier Schutzhelmpflicht besteht.

Eigentlich. Denn an diesem Abend ruht die Produktion von Windturbinengehäusen, Schiffsmotorblöcken und Antiterrorsperren, stattdessen haben die acht Frauen und Männer des Ukulele Orchestra of Great Britain auf einer Bühne am Ende der Halle Platz genommen. Welch ein skurriles Bild: Hier die kleinen Zupfinstrumente – dort die haushohen Schmelzöfen. Ensemblegründer Richie Williams ist schwer beeindruckt: „Great – daheim habe ich eine Vorliebe für Eisen und Stahl.“ Klar, dass die Ukulelisten dem besonderen Ort auch musikalisch ihre Aufwartung machen: „Wenn wir schon hier sind, sollten wir etwas Metal-Musik spielen“, meint George Hinchliffe verschmitzt. Und dann rockt das Mini-Orchester mit AC/DCs „Highway to Hell“ die Halle, feiert das Publikum die Briten mit stehenden Ovationen.

Patrick Dahlemann lächelt zufrieden: „Stolz und Selbstbewusstsein müssen in die Köpfe und Herzen der Menschen hier – und für solch eine gesellschaftliche Entwicklung ist Kultur kein Gedöns, sondern ein wichtiger Baustein.“ Als parlamentarischer Staatssekretär für Vorpommern im Kabinett von Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) muss der SPD-Politiker natürlich solche Sätze sagen, und doch ist es mehr als nur Wunschdenken, wenn der 31-Jährige feststellt: „Die Festspiele räumen mit alten Stereotypen über unsere Region auf.“ Nicht allein, dass das drittgrößte deutsche Klassikfestival in diesem Sommer die Zahl seiner Konzerte im östlichen Landesteil auf gut die Hälfte der rund 150 Veranstaltungen ausgedehnt hat, auf der erstmals angebotenen, dreitägigen Vorpommern-Tour der Festspiele eröffnet sich den Menschen tatsächlich ein ganz anderes Bild dieser Region, die sonst eher durch die höchste Arbeitslosigkeit und das schwächste Bruttoinlandsprodukt aller Bundesländer oder durch Rechtsradikalismus Schlagzeilen macht.

Weiträumige Naturlandschaften, kleine Idyllen wie der Botanische Garten in Christiansberg oder eine wildromantische Peene-Schifffahrt, rührige Kulturinitiativen wie auf der Burg Klempenow oder staunenswerte historische Spuren in dem 200-Seelen-Dorf Stolpe, wo neben den Resten des ersten vorpommerschen Klosters auch Heimatdichter Fritz Reuter literarische Erinnerungen hinterlassen hat, und der Gast zwischen dem deftigen Mahl im über 300 Jahre alten „Fährkrug“ und der Sterneküche im benachbarten Gutshaus wählen kann: „Uns ist es ein Herzensanliegen, diese ländlichen Räume zu entdecken und zu bespielen“, sagt FMV-Intendant Markus Fein. „Doch was diese Region alles zu bieten hat, erschließt sich unserem Publikum nicht über Einzelkonzerte – daher haben wir diese Idee der Vorpommern-Tage entwickelt.“

In der Tat hätte sich sonst wohl kaum ein Festspiel-Besucher in den Botanischen Garten von Walter Kapron und Manfred Genseburg verirrt. Dabei ist es ein kleiner großer Traum, den die beiden Gärtner hier nahe des Stettiner Haffs seit 1982 auf rund 30 000 Quadratmetern geschaffen haben: 500 verschiedene Pfingstrosen, 300 Funkien- und 250 Magnoliensorten blühen zwischen Rosen, Azaleen, Rhododendren und seltenen Stauden, zwischen Laub- und Nadelbäumen funkelt ein von Seerosen bedeckter Teich im Sonnenlicht, auf Bänken und in Pavillons haben sich die Besucher niedergelassen. Landschaftliche Glücksmomente, die musikalisch ihre Fortsetzung mit dem Arcis Saxophon Quartett in der Ueckermünder Marienkirche finden – so wie schon tags zuvor in der durch die Bilder Lyonel Feiningers berühmt gewordenen Kirche in Benz, wo nach dem nachmittäglichen Besuch des Wasserschlosses Mellenthin Seong-Jin Cho sich voller Leuchtkraft und Leidenschaft des formalen Beziehungsgeflechts von Liszts berühmter h-moll-Sonate annimmt. „Ein zutiefst ernsthafter Umgang mit der Musik“, würdigt Fein den Pianisten bei der anschließenden Verleihung des letztjährigen Publikumspreises.

Ein Umgang, den auch der Intendant und sein Team bei ihrer Programmplanung offenbaren, nicht zuletzt gegenüber den ländlichen Gebieten: „Was können wir abseits der Metropolen für die Region tun?“ Mögen hier auch die großen Spielstätten fehlen, so wecken die Festspiele doch mit Veranstaltungen wie den Vorpommern-Tagen oder der Reihe „Stars im Dorf“ Interesse und Begeisterung der Menschen vor Ort, wenn etwa die diesjährige Preisträgerin in Residence Harriet Krijgh für einen Tag in die Dorfgemeinschaft des 300-Einwohner-Ortes Golchen aufgenommen wird. Beim Bauern übernachtet, mit den Menschen ins Gespräch kommt und deren eigens für ihr Konzert organisiertes Kulturprogramm verfolgt, um am Abend dann mit ihrer Pianistin in der spätgotischen Saalkirche aufzuspielen.

„Mit Kultur werden diese kleinen Orte ganz anders wahrgenommen, ja erschließen sich vielen Besuchern erst, die so ein anderes Bild von Vorpommern bekommen“, stellt Michael Sack, Landrat in Vorpommern-Greifswald, anerkennend fest. Was sich für die Menschen vor Ort nicht zuletzt auch wirtschaftlich auszahle: „Die Festspiel-Gäste haben Zeit, erkunden das eine oder andere auf eigene Faust, was wiederum Gastronomie wie Hotellerie hilft.“ Oder eben Walter Kapron in Christiansberg: Binnen zwei Stunden kamen so viele Konzertbesucher in seinen Botanischen Garten wie sonst an einem ganzen Tag – „und obendrein ist es eine gute Werbung, denn die Hinweise auf unsere Anlage finden sich in den Programmen und auf der Webseite der Festspiele“.

Werbung für den Ort wie auch in Stolpe, wo neben dem historischen Streifzug die Bootsfahrt auf der Peene begeistert: ein Naturparadies mit Biber, Eisvogel, Kranich und Seeadler, das zu Recht den Namen „Amazonas des Nordens“ trägt. Und den Landrat von der „Work-Life-Balance“ schwärmen lässt, die vermehrt Fachkräfte überlegen lasse, diese Region als Wohnort zu wählen: „Die Probleme des einen sind vielleicht die Lösung des anderen – ein Zuzug im ländlichen Raum kann diesen wieder stabilisieren und  gleichzeitig Entlastung in Ballungsräumen schaffen.“ Ein Gewinn, den auch Dahlemann sieht, der sich für die finanzielle Unterstützung der Vorpommern-Tage durch Mittel aus dem Vorpommern-Fonds der Landesregierung stark gemacht hat. Wohl wissend, dass Kultur inzwischen zu einem harten Standortfaktor geworden ist, der am Ende selbst bei Investoren den Ausschlag für eine Standort-Entscheidung geben kann.

Fein betrachtet solch Engagement denn auch nicht als Entwicklungshilfe für eine vergessene Region: „Wir wollen gemeinsam mit den Menschen vor Ort etwas auf Augenhöhe machen und so auch ihre tolle Arbeit wie etwa in Christiansberg würdigen.“

Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern laufen bis 15. September. Es gibt mehr als 180 Veranstaltungen Karten: https://festspiele-mv.de

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