Literatur Kapiert, dass das Leben ein Lotteriespiel ist

Saarbrücken · Frankreich ist diesmal Gastland der gestern Abend eröffneten Frankfurter Buchmesse. Zu den herausragenden Neuerscheinungen gehört Valerie Despentes’ zeitkritischer Roman „Das Leben des Vernon Subutex“.

 Valerie Despentes

Valerie Despentes

Foto: Kiepenheuer & Witsch

Vernon ist, hier passt es, im Arsch. Früher hatte er einen gut laufenden Plattenladen mitten in Paris, aber das ist viele Kokslinien und noch viel mehr Abstürze her. Jetzt hat man ihn, weil er seit Monaten keine Miete mehr bezahlen kann, aus seiner Wohnung geworfen. Nachdem sein letzter Gönner, der Rockstar Alex Bleach, tot in einer Hotelbadewanne aufgefunden wurde, ist Vernons Lebensschiff endgültig auf Grund gelaufen. Soll er sich etwa damit trösten, dass er nicht der einzige ist, der von dem Napster-Tsu­nami erwischt worden ist, der Virginie Despentes’ fulminanten Roman durchzieht und darin noch einige Prekariatstypen mehr umhaut?

In Frankreich schwimmt Despentes, die aus Nancy stammt und in den Neunzigern mit ihrem von ihr selbst verfilmten Roman „Baise moi“ („Fick mich“) berühmt wurde, in dem sie ihre eigene Vergewaltigung als 17-Jährige verarbeitete, gerade obenauf. Und hat dort bereits die zweite Fortsetzung ihrer ziemlich rotzigen, durchaus als Teilzustandsbild der französischen Gesellschaft durchgehenden Vernoniade vorgelegt (die erste erscheint in Übersetzung im Frühjahr 2018). Dass auch bereits eine Verfilmung in der Mache ist, wundert nicht. „Das Leben des Vernon Subutex“  atmet den zynischen Geist gefeierter US-amerikanischer Netflix-Serien und ist in der rohen Bildgewalt seiner Sprache ein Stück filmische Literatur.

„Wenn du über vierzig bist, duldet dich Paris in seinen Mauern nur noch als Eigentümerkind“, heißt es einmal. Aber selbst die stehen bei Despentes auf wackligen Füßen. Der auf der Straße gelandete Vernon Subutex, sein Nachname bezeichnet ein Medikament zur Heroin-Substitution, klappert im Lauf des Romans alle möglichen früheren Pariser Freunde und Bekannte ab, um ein paar Tage unterzuschlüpfen. Diejenigen, die noch nicht dahingerafft worden sind. Pornodarsteller wie das Implatate-Wesen Pamela, die mit ihrer zum Transgender namens Daniel gewordenen Ex-Kollegin Deborah in einer eheähnlichen WG lebt. Oder Drehbuchschreiber Xavier, der Le Pen wählt und manchmal gerne mit einer Bazooka die Leute vor ihm an der Monoprix-Kasse ummähen würde. Oder windige Filmproduzenten wie Laurent, dessen Credo lautet: „Macht haben heißt weiterlächeln, wenn dir ein noch Mächtigerer die Rippen bricht.“ Oder Überforderte wie der Bassist Patrice, der Gewaltschübe an seiner Frau auslebt. Aus den Porträts dieser sich überwiegend in der Kulturindustrie verdingenden Vernon-Gefährten setzt der Roman ein von Sex, Drogen, Depressionen befeuertes Sittenbild von Verlierern und Möchtegern-Aufsteigern im großen kapitalistischen Hamsterrad zusammen. Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass die Leute heute betrogen werden wollen. Nicht zuletzt auf Facebook, dessen zersetzende Wirkung im Zeichen der Lust an „mobilen Identitäten“ Despentes gleich mit abhandelt. Eine ihrer Figuren lebt davon, auf Wunsch Künstler, Filme und Gesetzentwürfe zu lynchen. „Wir sind im dritten Jahrtausend, alles ist erlaubt.“

Despentes’ punkartige Zerlegung der neoliberalen Fassaden der konsumumflorten Pariser Scheinwelten nun gleich zum ultimativen Frankreichroman der Prä-Macron-Ära hochzujazzen, wäre übertrieben. Doch die psychologische Plausibilität ihrer Figuren taugt als Gleitmittel, das einen tief in heutige Realitätsnischen hineinrutschen lässt. Dass der Loser (und serial lover) Vernon wegen dreier Videokassetten in seinem Besitz, auf denen die Musik-Ikone Bleach genug O-Töne für einen Film über sich hinterlassen hat, plötzlich für andere interessant wird, wirkt als Plot wie eine Mischung aus Tarrantino und Houellebecq. Despentes entfaltet dabei so viel Speed, Vulgarität, Zeitdiagnose und Originalität, dass man schon jetzt auf Teil zwei wartet.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex. A. d. Frz. v. Claudia Steinitz. Kiepenheuer & Witsch, 400 S., 22 €.

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