Packendes Drama von Polanski Wenn Gerüchte zu Fakten mutieren

Berlin · Roman Polanski erzählt die historische Dreyfus-Affäre als packendes Drama – was in „Intrige“ mitschwingt, ist sein persönlicher Fall

 Diese Affäre erschütterte Frankreich vor mehr als 125 Jahren und brachte einen enormen politischen Skandal ans Tageslicht: Im Filmdrama „Intrige“ stehen sich Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin, l.) und Alfred Dreyfus (Louis Garrel) zuerst als Feinde gegenüber.

Diese Affäre erschütterte Frankreich vor mehr als 125 Jahren und brachte einen enormen politischen Skandal ans Tageslicht: Im Filmdrama „Intrige“ stehen sich Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin, l.) und Alfred Dreyfus (Louis Garrel) zuerst als Feinde gegenüber.

Foto: dpa/Guy Ferrandis

„J‘accuse“, ich klage an – so heißt der neue Film von Roman Polanski im französischen Original. Obwohl der Oscarpreisträger darin von einem politischen Skandal erzählt, der die Grande Nation vor mehr als 125 Jahren erschütterte, könnte der Titel auch als persönliche Abrechnung des Regisseurs verstanden werden. Immerhin holten Polanski im Zuge der #MeToo-Bewegung seine eigene Vergangenheit und ein Kindesmissbrauchsfall aus dem Jahr 1977 wieder ein. In seinem aktuellen Werk „Intrige“ thematisiert der 86-Jährige nun eine verlogene Gesellschaft, der die Wahrheit nicht so wichtig ist wie Vorverurteilungen und der Erhalt von Macht.

„Intrige“ spielt in Paris Ende des 19. Jahrhunderts. 1894 wird Alfred Dreyfus (Louis Garrel) von einem Militärgericht wegen Hochverrats verurteilt und wenig später aus der Armee entlassen. Dreyfus beteuert zwar seine Unschuld, doch er wird auf die Teufelsinsel vor der franzöischen Südamerika-Kolonie Cayenne verbannt. Das Volk jubelt und die Militärelite atmet erleichtert auf. „Die Römer gaben den Löwen Christen, wir geben ihnen Juden“, sagt einer.

Major Georges Picquart (Jean Dujardin aus „The Artist“) wird danach sogar befördert. Er hatte sich aus Sicht der Regierung in der Dreyfus-Affäre bewährt und wird im Auslandsnachrichtendienst Abteilungsleiter. Dort fallen ihm allerdings gravierende Missstände und Missmanagement auf. Bei seinen Recherchen zum Fall Dreyfus stößt er auf ein Geflecht aus Lügen und Intrigen: Beweismittel wurden gefälscht, Indizien bewusst in eine bestimmte Richtung ausgelegt. Die Wahrheit war einigen Verantwortlichen dabei egal. Lieber glaubten sie Gerüchten, die ihre Hierarchien stärkten und ihr Weltbild bestätigten. Ein Jude ein Sündenbock, das passte gut in die antisemitische Stimmung.

Diesen historischen, auf wahren Begebenheiten basierenden Stoff inszeniert Regisseur Polanski als ein mit seinem ruhigen Sog sehr packendes Drama und spannenden Krimi. Denn die Aufarbeitung des Dreyfus-Falles ist kompliziert und riskant, auch weil Picquart auf viel Gegenwehr trifft. Vor allem aber wird so erst das eigentliche juristische und politische Ausmaß der Affäre deutlich, die die Regierung in eine tiefe Krise stürzen wird.

„J‘accuse“ steht schließlich auf der Titelseite einer großen Tageszeitung – und genau so nennt auch Polanski seinen Film. Darin behandelt er zwar ausschließlich die Dreyfus-Affäre. Dennoch fragt man sich, ob der Regisseur damit nicht auch eine persönliche Geschichte erzählen will. 1977 hatte er Sex mit einer 13-Jährigen und floh vor der Urteilsverkündung aus den USA. Danach schuf er Kinoklassiker wie das mit drei Oscars ausgezeichnete Holocaust-Drama „Der Pianist“. Das Opfer selbst setzt sich für die Einstellung des Verfahrens gegen Polanski ein. Doch die US-Justiz hält daran fest und im Zuge der #MeToo-Bewegung wurde der Regisseur 2018 aus der Oscar-Akademie ausgeschlossen.

Mit „Intrige“ beweist Polanski nun aber erneut, dass er zu den großen Filmemachern seiner Generation gehört und auch mit 86 Jahren nichts von seiner Erzählkunst und seine Filme nichts von ihrer visuellen Kraft verloren haben: Die Ausstattung ist detailreich wie opulent und die Bilder so majestätisch, dass sie auf der großen Kinoleinwand bestens zur Geltung kommen. Polanski nimmt sich Zeit für Rückblenden und eine akribische Aufarbeitung – ohne dabei aber je zu langatmig zu werden. Keine Szene ist zu viel, kein Dialog zu lang.

Stattdessen offenbart „Intrige“ ein von innen verrottetes System. Es geht um Vertuschung, Verdrehung von Fakten, Hass und Verleumdung durch Medien. Polanski zeigt was passiert, wenn aus Gerüchten Fakten werden und man sich die Gegenseite gar nicht anhört, weil man von seiner Sicht fest überzeugt ist. „Intrige“, der beim Filmfestival Venedig den Großen Preis der Jury erhielt, regt das Publikum zum Nachdenken an – über Polanski, aber auch Parallelen zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen.

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