Interview zum Ophüls-Film „Das rote Rad“ Der Krieg und der Mensch

Saarbrücken · Plötzlich ist der Krieg da - und ein kleiner Junge verliert sein Zuhause. Mit seinem Rad zieht er durch die Landschaft, mal ländliche Idylle, mal Schlachtfeld, und sucht bei Begegnungen nach Anderen einen Platz für sich. Regisseur und Autor Nicolas Ehret, 1987 in Freiburg geboren, legt mit dem wortkargen und bildstarken Film seinen Abschluss an der Filmakademie Baden-Württemberg vor. „Das rote Rad“ steht beim Ophüls-Festival im Wettbewerb des Mittellangen Films.

 Regisseur und Autor Nicolas Ehret.

Regisseur und Autor Nicolas Ehret.

Foto: Filmakademie Baden-Württemberg

Was war die Ausgangsidee, der Anstoß zu Ihrem Film? War es vor allem die Situation des Krieges? Oder die Figur eines kleinen Jungen?

EHRET Das ging Hand in Hand miteinander. Ich war 2015 für einen anderen Filmdreh in Kurdistan/Nord-Irak, der IS hatte zu dem Zeitpunkt noch Mossul besetzt und wir hielten uns nur 70 Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Grenze in Duhok auf. Durch die Menschen, die ich dort kennenlernte, deren Leben von Krieg und Verfolgung geprägt waren, setzte ich mich zwangsläufig mit der Frage auseinander, was es bedeuten würde in so einem Teil der Welt groß zu werden und auf der anderen Seite, wie mein Schicksal in ein friedliches Europa geboren zu sein, mich geprägt hat. Mir wurde bewusst, dass der Frieden keine Selbstverständlichkeit ist – auch der Frieden hierzulande nicht. Seltsamerweise fand diese Auseinandersetzung während meiner ersten Wochen in Kurdistan nur gedanklich statt. Egal welche tatsächlich erlebten Geschichten mir erzählt wurden, welche Menschen ich traf und welche Erlebnisse ich hatte, ich fühlte erschreckend wenig. Ich war irritiert, und schämte mich, dass ich bei all den neuen Erfahrungen keine Emotionen hatte. Dann schickte mir meine Mutter, eines Tages aus dem Nichts heraus, eine E-Mail mit dem Gedicht „Die Kinder“ aus den „Christus Visionen“ von Rainer Maria Rilke – ich las es und es war „die Axt für das gefrorene Meer in mir“ – wie Kafka es so schön beschreibt. Die erste Szene von „Das Rote Rad“ entstand noch am selben Tag in einem kleinen Stadtpark in Duhok, sie ist nun nahezu unverändert so im Film umgesetzt worden. Ausgehend von dieser Szene und meinen Erfahrungen entstand dann zunächst ein Drehbuch für einen Langspielfilm, das sich aber mit der Zeit von dieser Szene mit dem Jungen und der Ziege weg entwickelte. Um als Abschlussfilm umgesetzt zu werden, war dieses Buch jedoch zu aufwendig und kompliziert zu finanzieren. Und so habe ich mich anderthalb Jahre später wieder der Szene besonnen, die damals in Kurdistan entstanden war und nahm diese nun als Ausgangspunkt für die Geschichte des Films.

Die Kriegssituation (und die Gegner) zeigt der Film nicht - hatten Sie eine konkrete politische Situation im Kopf, etwa einen Angriff Russlands? (Oder ging es Ihnen um nur um die grundlegende Situation der Auflösung?)

 Paul-André Patiño Poulat als namenloser Junge.

Paul-André Patiño Poulat als namenloser Junge.

Foto: Filmakademie Baden-Württemberg

EHRET Wir zeigen den „Feind“ im Film ganz bewusst nicht und geben auch keine Hinweise, wer dieser sein könnte. Zum einen wollten wir jeden politischen Fingerzeig, jede Zukunftsdeutung oder sogar Schwarzmalerei vermeiden. Es geht hier vielmehr darum, welche Rolle der Krieg für die Menschen spielt, die in ihn hineingeraten. Da lenkt jeder politische Kontext zunächst vom eigentlichen ab - besonders, wenn es sich um keine historische sondern um eine fiktive Kriegssituation handelt. Der zweite Grund ist, dass wir die Geschichte ausschließlich aus der Sicht des Kindes erzählen wollten. Der Junge kennt weder den politischen Kontext noch versteht er Grund und Ausmaß. Für ihn existieren nur die unmittelbaren Folgen, die sich auf ihn auswirken. Im Grunde würde es einem Erwachsenen wahrscheinlich nicht viel anders gehen. Es stellt sich also viel mehr die Frage nach den inneren Kämpfen der Menschen – und das auf beiden Seiten der Front.

Das "Rote Rad" hat Kriegsszenen mit Explosionen, was den Film sicher teurer gemacht hat als andere Abschlussfilme - mussten Sie die Hochschule da länger überzeugen?

 Unterwegs in der Welt des Krieges.

Unterwegs in der Welt des Krieges.

Foto: Filmakademie Baden-Württemberg

EHRET Ich kenne die Budgets anderer Abschlussfilme nicht und denke, dass diese durchaus stark variieren. In unserem Fall hatten wir Glück, das wir neben den Verantwortlichen der Filmakademie Baden-Württemberg auch den SWR und weitere Unterstützer mit unserem Stoff überzeugen konnten. Das hat es uns überhaupt erst ermöglicht den Film zu machen. Dennoch waren unsere Mittel bis zum Schluss beschränkt und haben uns gezwungen sehr genau zu planen. Da haben unsere Producer Joachim Weiler, Benedict Preis und Kathrin Rodemeier Unglaubliches geleistet. Es ist ja immer ein Balanceakt, die Filmproduktion zwischen den finanziellen Möglichkeiten, den logistischen Machbarkeiten und der gewünschten Umsetzung hindurch zu manövrieren. Was die Gefechtsszene betrifft, macht diese zwar einen sehr kleinen Teil des Films aus, jedoch war sie für uns unabdingbar. Es musste in der Geschichte zu dem Moment der unmittelbaren Konfrontation des Jungen mit dem Krieg in Form des Gefechtes kommen – ein wichtiges Moment auf der Erkenntnisreise des Jungen. Unser Budget und die Zeit erlaubte es uns tatsächlich einen einzigen Take, einen Versuch der Gefechtsszene zu drehen. Wir konnten uns genau fünf Granateneinschläge leisten, unser Kameramann Dennis Mill und ich hatten aber auch den Wunsch die ganze Szene in einer einzigen Plansequenz zu drehen – also ohne Zwischenschnitt. Wir haben lange geplant und geprobt. Alles musste stimmen. Das Timing, der Weg den Paul-André rennen musste, die Choreografie der Komparsen. Zur Sicherheit drehten wir mit einer zweiten Kamera mit, um im Notfall nachher doch die Möglichkeit zu haben schneiden zu können. Tatsächlich brauchten wir zwei Takes. Im ersten Take verlor Paul-André die Orientierung, und ich musste abbrechen. Zwei Explosionen waren schon in die Luft gegangen. Wir haben es also noch mal gemacht und uns im Schnitt (Editor: Tobias Dietz) dazu entschieden die Szene nicht zu schneiden dafür aber mit ‚nur’ drei Explosionen auszukommen. Was letztlich vollkommen ausreichend war.

Wie lange haben Sie nach Ihrem jungen Hauptdarsteller gesucht? War das ein großes Casting? Und wir läuft das in solch einem Fall ab?

EHRET Wie viel Glück kann man eigentlich haben? Ich kann es manchmal immer noch nicht ganz glauben, dass wir Paul-André Patiño Poulat gefunden haben und schon gar nicht, wie gewaltig, verletzlich, ehrlich und bewegend er die Rolle des Jungen umgesetzt hat. Es war zwar klar, dass der Film mit der falschen Besetzung zum Scheitern verurteilt sein würde, jedoch hätte ich es mir nicht träumen lassen letztlich einen so besonderen Jungen zu finden. Wir wollten ein Kind casten, dass noch keine Filmerfahrung mitbrachte und mit dem ich frisch und unmittelbar würde arbeiten können. Ich schrieb also erst mal alle Schulen in der Region Stuttgart mit einem Castingaufruf an. Ich rechnete mit einem langen und aufwendigen Castingprozess. Dem ersten Castingaufruf folgten circa 40 Jungen. Und am Ende des zweiten Tages kam Paul-André – da war es sofort klar. Es brauchte kein weiteres Casting mehr. Wir haben ihn zur Sicherheit noch einmal eingeladen, um ein bisschen intensiver mit ihm arbeiten zu können aber das hat unsere Begeisterung für ihn nur noch bekräftigt.

Paul-André Patiño Poulat muss in einigen harten Szenen spielen. Wie geht man als Regisseur damit um? Der Junge muss ja in gewisser Weise geschützt werden, andererseits muss er glaubhaft spielen - wie haben Sie da mit ihm gearbeitet?

EHRET Richtig, der psychische und körperliche Schutz von Paul-André hatte in meiner Arbeit und in der ganzen Produktion absolute Priorität. Zunächst einmal habe ich mich mit seinen Eltern über die Themen, die in unserem Buch verhandelt werden unterhalten, um herauszufinden, auf welchem Entwicklungsstand Paul-André ist und mit was er sich schon von sich aus auseinandergesetzt hatte, bzw. welche Fragen bereits von ihm kamen. Dann habe ich mehrere Monate vor Drehstart begonnen, mich regelmäßig mit ihm zu treffen und zu proben. Dabei ging es weniger darum konkrete Szenen zu probieren, sondern ihn erst mal langsam an das Schauspielen heranzuführen, ihn erfahren zu lassen, dass seine natürliche Spielfreude gewollt ist und es nichts gibt, was falsch wäre. Langsam haben wir uns dann mit Gesprächen, Spielen und Übungen an die schweren Thematiken herangetastet, immer in seinem Tempo und immer von seinen eigenen Erfahrungen ausgehend. Letztlich haben wir so für viele der Szenen ein harmloseres Äquivalent aus seinem eigenen Erfahrungshorizont gefunden, das für ihn aber mit konkreten Emotionen und Erinnerungen verbunden war. Wichtig war auch gemeinsam mit Paul-André die Figur des Jungen zu erschaffen, mit allen Details, damit er eine ganz klare Trennung zwischen sich und der Figur erfährt, in die er hinein und aus der er vor allem auch wieder hinausschlüpfen kann. Wir haben sogar einen Namen für den Jungen, der bleibt aber unser Geheimnis.
Bei den Dreharbeiten wird vieles, was sich im Film nachher nach einer dichten Einheit anfühlt, so kleinteilig erarbeitet, dass ich Paul-André oft ganz andere Kontexte oder Aufgaben geben konnte, die manchmal gar nichts mit der entsprechenden Szene zu tun hatten. So kann es sein, dass wenn wir Paul-André im Film sehen, wie er ein Vorgehen beobachtet, er sich zum Beispiel in Wirklichkeit am Set darauf konzentriert, wie viele Vögel er gerade hören kann oder dabei zusieht, wie zwei Teammitglieder auf meine Anweisung hinter der Kamera um eine rote Mütze ringen. Die Intensität der Szenen im Film war also oft am Set nicht so zu spüren. Bei aller Schwere der Geschichte sind wir mit Paul-André immer spielerisch durch die Dreharbeiten gegangen und zudem hat er so viel Fantasie, Konzentration und Einfühlungsvermögen mitgebracht, dass es ihm gelang im einen Moment die Rolle des Jungen ergreifend zu verkörpern und kurz darauf wieder sein Lieblingslied D’espacito zu trällern.
Ich denke, das Wichtigste ist, ein Kind spüren zu lassen, dass es gut aufgehoben ist, dass alles nur ein Spiel ist und dass es nichts machen muss, was es nicht möchte. Vertrauen zueinander und die Verantwortung, dieses Vertrauen ernst zu nehmen, sind die wichtigsten Zutaten.

Bei der Szene, in der ein Mann aufgehängt wird - haben Sie versucht, diese Bilder möglichst getrennt von seinen "reaction shots" zu filmen?

EHRET Ja, hier haben wir wie in vielen anderen Szenen mit den ‚Erwachsenen’ Schauspielern die Szene geprobt und gedreht und erst anschließend Paul-André dazu geholt. Wenn man sich die Auflösung der Szene genau anschaut, bemerkt man, dass der Junge immer gesondert vom eigentlichen Geschehen im Bild zu sehen ist.

Wie viele Drehtage hatten Sie?

EHRET Der Hauptdreh dauerte 13 Drehtage. Dann kamen 2 kleine Nachdrehtage mit einem Mini-Team dazu. Und letztlich, über einen Monat später, noch mal 2 Drehtage für die Hühnerhofszene, die wegen dem Schlüpftermin der Küken erst so spät gedreht werden konnte. Also insgesamt 17 Drehtage.

Was waren für Sie die schwierigsten Momente?

EHRET Es ist schwer einen bestimmten Moment herauszugreifen. Die Herausforderungen waren auf so vielen Ebenen für alle Beteiligten so hoch, dass ich das Gefühl habe, dass die ganze Produktion ein einziger Kraftakt war. Was nicht heißt, dass es nicht auch sehr viel Freude gemacht hat, aber der Drehplan war so eng zu gezurrt, dass jedes Abweichen, jedes unerwartete Ereignis unaufholbare Konsequenzen mit sich gebracht hätten, was den Druck sehr erhöht hat. Mit einem Kind in der Hauptrolle kann man nicht länger als drei Stunden täglich drehen und nachts überhaupt nicht. Der Junge kommt allerdings in jeder Szene vor und es gibt etliche Nachtszenen, die wir dann alle in einem Zeitfenster von 20 bis 22 Uhr oder unter einem dunklen Moltonkasten, sozusagen ein großes Zelt aus schwarzen Stoffen, drehen mussten. Das schränkt auf gestalterischer Ebene natürlich enorm ein. Aber ich will mich nicht beklagen, so ist Filmemachen halt. Das wird nie anders sein und macht auch einen gewissen Reiz aus, der einen beflügeln kann.

Ihre Filme sind bisher bei einigen Festivals gelaufen - wie wichtig ist das innerhalb der Branche als junger Filmemacher?

EHRET Festivals sind sehr wichtig. Zum einen bieten sie natürlich die Gelegenheit, seine Filme einem interessierten Publikum zu zeigen und sich darüber auszutauschen. Wo sonst kann man, wenn man noch am Anfang steht, mit seinem Film, in den man vielleicht Jahre an Arbeit investiert hat, hingehen und sagen: Hallo, hier bin ich und das ist unser Film! Gerade für den Kurzfilm oder den mittelangen Film gibt es nur wenige andere Plattformen, wo das möglich ist. Zum anderen sind es die besten Gelegenheiten sich zu vernetzen. Alle sind aus demselben Grund da, Filme zu zeigen, Filme zu sehen und miteinander in Kontakt zu treten. Und sollt es sich ergeben, dass man einen Preis gewinnt, kann das Türen öffnen.

Wie geht es nach Ihrem Abschluss weiter - gibt es konkrete Pläne?

EHRET Ich habe meinen Abschluss bereits vergangenen April gemacht. Die Arbeit an „Das rote Rad“ ist allerdings erst seit einer Woche vor Weihnachten beendet. Ich bin also noch am Luftholen gerade. Derzeit schreibe ich an zwei Langfilmstoffen und bin auf der Suche nach einer Agentur. Der Plan ist, weiterhin Filme zu machen. Wie und auf welchen Wegen sich das ergibt, bleibt in dieser Branche oft nicht vorhersehbar, und das verlangt Durchhaltevermögen und Flexibilität. Ich denke, ich bin mit beidem gut ausgestattet und bin demzufolge zuversichtlich.

Termine:
Donnerstag, 16.30 Uhr, Cinestar 4.
Freitag, 22.15 Uhr, Kino Achteinhalb.
Samstag, 19 Uhr, Filmhaus.

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