Im Schatten eines Teufels

Saarbrücken · Einmal mehr erweist sich Christoph Hein, 72 Jahre mittlerweile, in seinem jüngsten, etwas ausuferden Roman „Glückskind mit Vater“ als detailversessener, scharfsichtiger Protokollant deutscher Verhältnisse.

 Romancier Hein. Foto: dpa

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Als Konstantin Boggosch nach zwei Jahren und nur ein paar Postkarten endlich zu seiner Mutter zurückkehrt, empfängt die ihn mit einem Schlag ins Gesicht. Es ist das Jahr 1961 und der Junge noch nicht volljährig. Durch Berlin ist gerade die Mauer gebaut worden, er kam von der falschen Seite eben noch dran vorbei. Konstantin war in Frankreich, weil er einfach nur weg wollte. Zur Fremdenlegion, doch die wollte ihn nicht. Dann landete er bei vier ehemaligen Kämpfern der Resistance, die es gut mit ihm meinten, obwohl er ein Deutscher war. Sie wussten nicht, wer der Vater dieses frühreifen fremden Freundes war. Der hatte einem der Vier das linke Ohr taub geschlagen im Krieg.

Konstantin Boggosch hat diesen Gerhard Müller, der sein Vater war und ein großer mitteldeutscher Industrieller, nie kennengelernt. Vor seiner Geburt war er in den polnischen Wäldern als Kriegsverbrecher standrechtlich hingerichtet worden. Die Schuld des SS-Mannes, der neben seiner Firma ein betriebseigenes Konzentrationslager fast fertig gebaut hatte und in vorderster Linie an Massakern beteiligt war, war gar zu erdrückend. Sie erdrückt auch die Biografie des nachgeborenen Sohnes. Dem werden in der jungen DDR alle Chancen verwehrt, obwohl er vielfach talentiert ist. Er darf nicht einmal zur Armee. Der Vater ist Konstantin Boggoschs Makel, er ist ein allpräsentes Phantom in den Akten und im richtigen Leben, mit dem gemeinsam er in Sippenhaft genommen wird. Der tote Vater steht im Weg wie ein Gespenst.

Ein weiteres Mal erweist sich Christoph Hein in seinem jüngsten, ein wenig ausuferden Roman als detailversessener, scharfsichtiger Protokollant deutscher Verhältnisse. Wieder bringt er dazu seine schnörkellose, schmuckfreie Sprache in Stellung, mit der er die Jahrzehnte überspannenden Ereignisse zu objektivieren sucht. Als blieben immer die naheliegendsten Attribute und Verben stehen, so liest sich diese Prosa. Das macht sie mitunter bräsig und stockfleckig, das degradiert den hingebreiteten Stoff zur Geschichtsillustration. Es ist, als würde das verblichene kleine Land nochmals Auferstehung feiern, sich breit machen. Das erschwert die Lektüre, die in ihrer Rückspiegelschau in den Kontext von "Der Turm" und "Kruso" gehört.

Den Rahmen dieses Abstiegs in den Zeittunnel bildet das Ansinnen einer jungen Journalistin. Der inzwischen pensionierte Boggosch soll ihr seine Erinnerungen für einen Zeitungsartikel mitteilen, was er ablehnt, weil man den Rückblicken alter Männer misstrauen sollte. Doch wirkt diese Bitte aus der übernächsten Generation wie der Impuls für das Buch. Darin ist auch von zwei sehr unterschiedlichen Brüdern zu lesen. Im älteren der beiden lebt der Vater fort auf andere Weise. Der macht zunächst eine Parteikarriere und nimmt nach der Wende im Wissen, dass der Kriegsverbrecher im anderen deutschen Teil rehabilitiert ist, das Millionenerbe an, bis die halbe Stadt für ihn arbeitet. Neben die Ostexegese also rutschen die Westklischees.

Was bleibt von diesem Buch? Die Geschichte der Mutter. Wie Hein diese integre, kluge Frau aus gutbürgerlichem Haus zwischen Scham und Würde schlingern lässt, wie er ihren einsamen frühen Tod herleitet und wie er dazu nur wenige Andeutungen braucht, das ist dann endlich große Kunst.

Christoph Hein: Glückskind mit Vater. Suhrkamp. 528 Seiten. 22,95 €

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