Bildende Kunst Hier können alle übers Wasser wandeln

Münster · Die fünften Skulptur Projekte in Münster versammeln 35 neue Arbeiten im öffentlichen Raum und im Museum.

 Besucher in der riesigen Installation „After ALife Ahead“ von Pierre Huyghe.

Besucher in der riesigen Installation „After ALife Ahead“ von Pierre Huyghe.

Foto: dpa/Friso Gentsch

Die Beine vieler Besucher sind noch müde vom erschöpfenden Kunstparcours auf der Documenta in Kassel. Doch in Münster ist alles anders. Bei der fünften Ausgabe der alle zehn Jahre stattfindenden Skulptur Projekte schreiten Besucher ganz relaxt übers Wasser, sie lauschen populären Schlagern in einer Disco, erkunden ein Kleingartengelände oder beobachten lebende Organismen in einer zum Abriss freigegebenen Eissporthalle. Willkommen in Münster, der wohlhabenden, akademisch geprägten Stadt im katholischen Westfalen.

Hier hat Kasper König zusammen mit Klaus Bußmann 1977 das Format „Skulptur Projekte“ erfunden. Die beiden ersten Ausgaben stießen auf heftige lokale Widerstände, doch heute ist die Schau bei den Münsteranern und ihren Besuchern aus aller Welt beliebter denn je. 2007 wurden 575 000 Besucher gezählt. Mit einem Faltplan in der Hand wird der Skulpturenparcours für die Besucher zur intellektuellen Schnitzeljagd. Angesichts des sich abzeichnenden Fun-Faktors warnt Kasper König, der die Schau zusammen mit Britta Peters und Marianne Wagner kuratiert hat, jedoch vor einer „Eventisierung“: „Es ist mein Job, als künstlerischer Leiter dafür zu sorgen, dass es kein Festival wird, sondern eine Ausstellung bleibt, die man physisch, haptisch, emotional wahrnimmt.“

Der Publikumsfavorit der Schau befindet sich in diesem Jahr am Stadthafen. Für ihr Projekt „On Water“ hat die deutsch-türkische Künstlerin Ayse Erkmen mehrere Überseecontainer in einem Seitenarm des Dortmund-Ems-Kanals versenkt, die jetzt unter der Wasseroberfläche einen begehbaren Steg bilden. Erkmen ist bekannt für ihre kritisch-ironischen Analysen stadtplanerischer Gegebenheiten. Ihr 100-Tage-Steg dürfte als Seitenhieb auf allzu hochfliegende Investorenträume gemeint sein. Er stellt nämlich den temporären Brückenschlag zwischen dem gentrifizierten Nordkai und dem nach wie vor industriell geprägten Südkai her.

Die New Yorker Malerin Nicole Eisenman zeigt in einer Parkanlage ihre Brunnenskulptur „Sketch for a Fountain“ mit voluminösen Gips- und Bronzefiguren. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass die nackten Figuren nicht eindeutig geschlechtlich codiert sind: Eisenman, die sich selbst als „gender fluid“ bezeichnet, gelingt es, die auf den ersten Blick unverfängliche Badeszene subversiv mit gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen wie Sexualität, Transgender oder Schönheitsidealen aufzuladen.

Die Berliner Künstlerin Hito Steyerl präsentiert ihr pointiertes Video-Environment „HellYeahWeFuckDie“ in der futuristischen 1970er Jahre-Architektur der ehemaligen West-LB. Animationsfilme mit humanoiden Robotern kontrastiert sie mit Aufnahmen aus der umkämpften kurdischen Stadt Diyarbakir, die vor 800 Jahren auch Wirkungsstätte des islamischen Ingenieurs und Gelehrten al-Dschazarī war. Posthumane Intelligenz trifft hier auf frühislamische Weisheit, metallische Raumteiler auf in Beton eingegossene Textfragmente aus amerikanischen Popsongs.

Höhepunkt in Norden der Stadt ist die sehr komplexe Arbeit „After ALife Ahead“ des Franzosen Pierre Huyghe, die lose an seine erfolgreiche Documenta-Arbeit von 2012 anknüpft. Den Betonboden einer ehemaligen Eissporthalle hat Huyghe mit präzisen Schnitten freigelegt. Die sandgrubenartige Installation führt tief hinunter in eiszeitlich geformte Lehm- und Sandschichten voller Geröll und Grundwasserpfützen. Unterwasserlebewesen in einem Aquarium, Bienen, Ameisen und ein lebendes Pfauenpärchen bevölkern die postapokalyptische Szenerie. In einem Inkubator befinden sich zudem menschliche Krebszellen, deren unkontrolliertes Wachstum das Öffnen und Schließen eines pyramidenförmigen Dachfensters steuert. Huyghe schafft ein ebenso faszinierendes wie beunruhigendes Memento mori des 21. Jahrhunderts.

Viele der Arbeiten sind ohne Vorwissen unmittelbar erfahrbar, und funktionieren auch auf einer tieferen Ebene. Anders als auf der Documenta, die sich vordergründig politisch gibt. Bis zum 1. Oktober ist noch Zeit für eine Tour. Dann wird man wieder zehn Jahre bis zur nächsten Ausgabe warten müssen.

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