Perspectives Heiliger Ernst unter der Maske des Klamauks

Saarbrücken · „Rumeurs et petits jours“: In der Alten Feuerwache feierte das neue Stück des Raoul Collectif Deutschlandpremiere.

Das Raoul Collectif ist ein Phänomen. Obwohl das Perspectives-Publikum vor französischem Sprechtheater oft Manschetten hat, waren die beiden Vorstellungen der belgischen Truppe am Samstag und Sonntag in der Alten Feuerwache mit als erste ausverkauft. Und es wurde viel gekichert und gelacht. Obwohl die Übertitelung für einige Zuschauerreihen durch die Bühnendeko kaum lesbar war. Dabei stellt gerade das neue Stück der Belgier, die 2014 schon mal hier waren, hohe Anforderungen an Sprach-und Kulturkenntnisse, um es voll zu goutieren.

Zunächst wirkt es wie eine Parodie auf die schöngeistige Radio-Debattier-Sendung „Le masque et la plume“ des Senders France Culture. Dafür nimmt uns das Raoul Collectif mit in ein Radiostudio der 70er Jahre. Stilecht mit Rolli, Pullunder, Kippe und Schallplattenapparat sitzen sie zu fünft am langen Tisch und geben die eitlen Intellektuellen, die mit heiligem Ernst herrlich spitzfindig über Aphorismen, Tierfabeln und – zu einem Diavortrag (!) – über die Schönheit aussterbender Tiere räsonieren. Mit Themen und Motiven, die im Verlauf des Stücks wiederkehren, treibt die Gruppe ein raffiniertes postmodernes Spiel. Ähnlich wie die Figuren in Robert Altmanns Film „The last Radio-Show“ haben die Debattierer erst kurz zuvor erfahren, dass dies ihre letzte Sendung sein wird. Der Radio-Besitzer will sie einsparen. Grollend, aber auch ratlos wollen sie ihr Programm durchziehen, gehen sich aber, dieweil auch die Studiotechnik schlapp macht, zunehmend an den Kragen – als Intellektuelle selbstredend nur verbal.

Statt mit dem erwarteten Showdown überraschen die Raouls nun mit ihrer tieferen, gesellschaftspolitischen Botschaft. Woher es kommt, dass wir alle so individualistisch von Konkurrenzdenken geprägt sind, statt uns konstruktiv zu solidarisieren? Die Antwort liefert ein komisch gehaltener Diavortrag, der uns über Thatcher-Berater Friedrich von Hayek und seine Freunde als Urheber des Siegeszugs des Neoliberalismus aufklären soll. Was tun? Wie ihn besiegen? Thatchers Slogan von der Alternativlosigkeit („There‘s no alternative“, abgekürzt T.I.N.A) wird von der Truppe personifiziert: Einer von ihnen betritt mit Perücke und Röckchen persönlich die Bühne und lässt sich siegeslächelnd befragen, die anderen greifen zu Pistole. Doch eine Idee lässt sich nicht erschießen, wie einer der Radio-Intellektuellen feststellt. Bleibt nur: Ab in die Wüste. Sandsturmgleich schaufeln die Raouls zentnerweise Hirse auf die Bühne – und entlassen uns schließlich mit einer schönen Utopie. Kuh und Pferd, die in der anfänglich sezierten Tierparabel nichts miteinander zu tun haben wollten, vertreiben sich hier nun gegenseitig solidarisch die Fliegen. Spätestens jetzt merkt man: Unter der Maske des Klamauks ist auch bei den Raouls ein heiliger Ernst.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort