Hackbällchen beim Griechen

Saarbrücken · Getriebene ihrer Gefühle: Flüchtlingskanzlerin Angela Merkel wird zur Romanfigur und lässt über ihre Schulter blicken.

 Autor Konstantin Richter kriecht in seiner Kanzlerinnen-Novelle förmlich in den Kopf von Angela Merkel hinein. Foto: Steffen Jänicke

Autor Konstantin Richter kriecht in seiner Kanzlerinnen-Novelle förmlich in den Kopf von Angela Merkel hinein. Foto: Steffen Jänicke

Foto: Steffen Jänicke

"Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?" Die Frage, die ihm eine Literaturstudentin bei seiner Poetik-Vorlesung stellte, hat der Schriftsteller Friedrich Christian Delius in der Zeitschrift Sinn und Form (3/2017) gerade mit einem klaren Nein beantwortet: Merkel-Roman? "Niemals! Da stellen sich bei mir einfach keine Bilder ein."

Zum einen ist die Pastorentochter Merkel dem Pastorensohn Delius menschlich nah, aber politisch suspekt. Biografien und Satiren seien auch keine Lösung, und schließlich wolle man ja in einem Roman nicht lesen, was man schon wisse. Literatur soll nicht verurteilen, sondern subjektiv und eigensinnig "den Augenblick neu erschaffen". Delius kann sich denn auch höchstens einen Merkel-Roman in der Retrospektive vorstellen, etwa wenn die Politrentnerin im Jahr 2033 auf den Klippen von Rügen auf ihre Kanzlerjahre zurückblickt.

Delius hat den Roman "Merkel auf den Kreideklippen der Melancholie" bisher zum Glück nicht geschrieben. Dafür hat jetzt ein anderer Schriftsteller sich an den ersten Merkel-Roman der deutschen Literaturgeschichte gewagt: Konstantin Richter, politischer Journalist und Autor einer "rasanten Kulturgeschichte für Vielbeschäftigte" mit dem schönen Titel "Kafka war jung und er brauchte das Geld".

Erste Rezensionen zeigen eine beachtliche Schwankungsbreite des Urteils: Wo die einen von "Anmaßung", alberner Kolportage oder gar sexistischen "Bierzeitung-Fantasien" sprechen (bloß weil Merkel an einer Stelle ihren "Po" müde an die harten Stuhllehnen von Bayreuth drückt), sehen andere Rezensenten eine bemerkenswerte Satire, ja eine "geniale Persiflage auf die Obsession unserer transparenten Ära" (Spiegel online).

Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: "Die Kanzlerin" ist keine große Literatur, aber eine hübsche kleine Novelle, mehr Gedanken- und intimes Kammerspiel als klassischer Roman. Richter kriecht förmlich in den Kopf der Kanzlerin hinein, um ihre Gefühle und Gedanken zur Flüchtlingskrise 2016 zu lesen. Es macht unleugbar Spaß, Innen und Außen, Seelen- und politische Lage, "wahres Ich" und Medien-Bild zu vergleichen. Nichts ist so befriedigend, wie anderen, zumal Mächtigen, beim Denken, Zweifeln und Scheitern über die Schulter zu blicken, noch vor ihnen die kleinen Risse und Fehler beim Übereinanderschieben von Mensch und Maske, Selbstwahrnehmung und öffentlichen Bildern wahrzunehmen. Und nicht zuletzt: Mäuschen zu spielen, wenn Merkel schulmädchenhaft mit ihrer Büroleiterin über Juncker (nett, aber nur, wenn er nüchtern ist) und Hollande (ein eitler Pfau, und "nicht mal schön") lästert.

Die von Delius als "stocknüchtern und spannungsarm" beschriebene Kanzlerin zeigt Gefühle: Ohnmacht und unbeholfenes Mitleid (etwa mit dem weinenden Flüchtlingsmädchen Reem), Zweifel und Verzagtheit (Schaffen wir das?), Empörung und Trotz, als der Mob in Heidenau sie übel beschimpft. Einmal ließ sie ihr Herz sprechen, und schon drehen ihr die Hetzer und selbst Seehofer einen Strick daraus. Der alte Martin Walser, der indische Premier, ihre Schwester, die Ergotherapeutin, selbst ihre Putzfrau: Alle halten die Grenzöffnung für einen Riesenfehler. Das verletzt die Roman-Merkel und macht sie zu einer sympathischen Figur. Es ist nicht mal kitschig oder albern, wenn sie sich beim Griechen, bei Hackbällchen für 14,90 Euro, von ihrem mindestens ebenso nüchternen Gatten belabern und mit einem scheuen Küsschen trösten lässt. Sauer und Merkel sind nicht Tristan und Isolde. Ihre Ehe ist kein Liebesidyll, keine große Oper, nur eine Zweck- und Zwangsgemeinschaft.

Die kaltblütige Merkel entdeckt in der Flüchtlingskrise ihr Herz und wird grausam dafür bestraft: Richter hat für das Politico 2016 schon mal ein Porträt in diesem Sinne skizziert, eine jener "Aufstieg- und Fallgeschichten, die jeder gerne liest", wie er damals schrieb. Damals musste er sich im entscheidenden Moment ausblenden.

Als Journalist soll man bei den Fakten bleiben, nicht spekulieren und politische Entscheidungen auf Emotionen, Stimmungen, persönliche Neurosen und Magenbeschwerden reduzieren, obwohl eben das im Zeitalter der Talkshows, Tweets, Bunte-Homestories und Fernsehserien wie "Borgen" und "House of Cards" ständig passiert.

Jetzt, als Romanautor, darf Konstantin Richter seine Merkel-Fantasien endlich ausleben, vertiefen und in die sanfte Groteske treiben. Am Ende erinnert die von ihren Gefühlen übermannte Physikerin an "Die Getriebenen", das Sachbuch eines Journalisten über Merkels Schicksalsjahr. Die Kanzlerin mag nicht zur abendfüllenden literarischen Figur taugen, aber einen netten kleinen Roman kann man schon mal um sie herum schreiben.

Konstantin Richter: Die Kanzlerin. Eine Fiktion. Kein & Aber, 175 S., 18 €.

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