Große Gefühle, tiefe Gedanken

Saarbrücken · Zum 16. Mal zeigen Mitglieder des Ballett-Ensembles des Saarländischen Staatstheaters eigene Choreografien in der Reihe „Substanz“. In diesem Jahr beteiligen sich elf Tänzerinnen und Tänzer an dem Abend in der Alten Feuerwache in Saarbrücken. Zu erleben ist ein sehr gemischtes Programm mit qualitativen Höhen und Tiefen.

 Szene aus Liliana Barros Stück „Collider/Vainglory“, mit dem sie sich als Choreografin für die nächste Spielzeit empfiehlt. Fotos: B. Stöß

Szene aus Liliana Barros Stück „Collider/Vainglory“, mit dem sie sich als Choreografin für die nächste Spielzeit empfiehlt. Fotos: B. Stöß

Ein neuer Jahrgang "Substanz" - und wie immer sah man am Sonntag Herausragendes neben soliden ersten Choreografie-Arbeiten, aber auch wilde, ausschweifende Experimente wie Francesco Vecciones surrealistisch anmutendes Stück über das Thema Ehe und Partnerschaft in all ihren dramatischen Facetten. Hier überzeugte weniger die choreografische Leistung als vielmehr die opulente Kostüm-Ausstattung im Stil der 30er Jahre und das große Personalaufgebot, das sich auf und vor einer Bühne im Bühnenraum liebte, stritt und misshandelte. Der Höhepunkt dieser schrillen Performance: Liliana Barros singt "My funny Valentine" - in ihrer Rolle als Diva am Mikrofon genauso überzeugend wie später als Fabel-Wesen Kyohime in Masayoshi Katoris gleichnamiger, wunderbar poetischer Choreografie, die der Japaner seiner Ensemble-Kollegin auf den Leib entworfen zu haben scheint. Einer japanischen Legende nach verwandelte sich Kiyohime - wütend über enttäuschte Liebe - in einen feuerspeienden Drachen, der den Geliebten verfolgt und schließlich tötet. Katori zeigt eine sehr reduzierte, sinnliche Choreografie, in der er auch die verletzte, liebende, leidende Kyohime thematisiert. Barros tanzt dieses Solo in ihrer ausdrucksstarken, sinnlichen Körpersprache.

Überhaupt war es Liliana Barros' Abend, die als Multitalent aus dem im Ganzen hervorragenden Ensemble hervorsticht. Er gipfelte in ihrem Stück "Collider/Vainglory", zugleich Höhepunkt und Ende des langen Ballettabends. Sechs Tänzerinnen und Tänzer in goldenen Kostümen bewegen sich zu pulsierenden Beats mechanisch über die Bühne. Sie wirken wie androgyne Wesen in Trance. Barros, die in den vergangenen Jahren bereits einige erfolgreiche Choreografien zeigte, entwickelt hier ein vielschichtiges Tanzstück, in dem sich immer wieder Paare zu Pas de deux lösen, die Tänzer ansonsten aber weitgehend isoliert agieren. Man assoziiert einen Laufsteg, mehr Schein als Sein, Glitzer und Glamour. Großen Wert legt die Choreografin auf die Mimik ihrer Tänzerinnen und Tänzer: Hier gibt es nichts zu lachen, alles wirkt künstlich, affektiert, entmenschlicht. Am Ende verharrt das Ensemble im Goldregen. Mit dieser vielversprechenden Choreografie empfiehlt sich Liliana Barros für die kommende Saison: Sie wurde beauftragt, ein Stück für einen mehrteiligen Ballettabend zu kreieren.

Auch Ramon John hat schon mehrfach bei "Substanz" begeistert. In diesem Jahr beleuchtet er - im wahrsten Sinne - "A Grey Area" (Graues Gebiet). So heißt seine Choreografie für sieben Tänzerinnen und Tänzer. Zu metallischen Techno-Beats und im Spotlight von vier beweglichen Scheinwerfern erforschen sie das große Gefühlsspektrum rund um das Thema "happiness". Es ist die letzte Arbeit von Ramon John für "Substanz", er wird Saarbrücken verlassen. Wie Katori wechselt er nach Wiesbaden.

Viel Witz kam nicht vor in dieser 16. Ausgabe von "Substanz". Vielmehr erlebte man - zum Teil langatmige - selbstreflektierende Beiträge. Nach einem eher kontemplativen Einstieg geriet Marioenrico D' Angelos "Swept under" gleich zu Beginn des Abends zu einer Art unterhaltsamer Techno-getriebenen Einweihungsparty, an deren Ende alle Tänzer auf einem riesigen Teppich tanzen, unter dem sie zuvor hervorgekrochen waren. Auch Marina Miguélez-Lucena spielt mit Stoff: In "Within" schälen sich vier Tänzerinnen aus einem Leinen-Kubus, nachdem sie sich erst einmal kichernd über ihre Probleme, Ängste und Zweifel ausgetauscht haben. Das hübsche Stück zeigt die vier Frauen als Freundinnen, die auch mal streiten, zum Schluss aber wieder - im wahrsten Sinn des Wortes - unter einer Decke stecken.

"Merrily on our way to nowhere at all" von Saul Vega-Mendoza bleibt so kryptisch wie der Titel. Nicht nur bei diesem Stück wäre eine kurze Beschreibung im Programmheft sehr hilfreich gewesen. Doch leider fand das teils doch recht irritierte Publikum keinerlei thematische Informationen zu den elf Stücken. Eingängig stellte sich Katherine Lakes "Walls we build" dar, in dem ein Paar vergeblich versucht, zueinander zu finden. Pascal Séraline nimmt uns in "Le vol heure de la plage" mit ans Meer. Der dienstälteste Tänzer stammt von der Karibikinsel Martinique und kehrt dorthin zum Ende der Spielzeit auch wieder zurück. "Seek" von Sarah Philomena Schmidt ist die vertanzte (berühmte) G-Dur-Suite für Violoncello von Bach, die Jan Krause live auf der Bühne spielt. In "Looping thoughts" von Louiza Avraam kreisen Gedanken, Bewegungen und Drehhocker um die Wette. Und auch das Publikum muss mitdenken. Gegen Ende also doch noch ein wenig Witz, philosophisch verpackt.

Weitere Termine: Heute und am 2., 5., 7., 13. Juli (jeweils um 19.30 Uhr). Karten unter:

 Solo: Liliana Barros in „Kiyohime“ von Masyoshi Katori.

Solo: Liliana Barros in „Kiyohime“ von Masyoshi Katori.

Tel. (06 81) 30 92 486.

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