Grau denken, nicht schwarz-weiß

Saarbrücken · Die aktuellen Islam-Debatten in Deutschland decken politisch wie kulturwissenschaftlich ein weites Spektrum ab, das von rechten bis linken Positionen reicht. Zwei konträre Haltungen hinsichtlich Chancen und Grenzen der Integration von Muslimen bilden zwei Neuerscheinungen ab: Während Samuel Schirmbeck, lange ARD-Korrespondent im Maghreb, vor einem „islamischen Kreuzzug“ warnt und dazu islamkritische Stimmen von Muslimen bündelt, verteidigt die in Paris lehrende Soziologin Nilüfer Göle in „Europäischer Islam“ das Integrationsmodell. Sie vernachlässigt dabei aber bestehende Probleme im Zeichen des Multikulturalismus.

 Sehen so muslimische Flüchtlinge in Deutschland aus? Differenzierung tut Not, Klischees aber sind vielen am Ende lieber. Foto: Fotolia

Sehen so muslimische Flüchtlinge in Deutschland aus? Differenzierung tut Not, Klischees aber sind vielen am Ende lieber. Foto: Fotolia

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Im Januar 2016, kurz nach den Kölner Silvesternacht-Ereignissen, erschien in der "FAZ" ein Gastbeitrag des langjährigen ARD-Korrespondenten im Maghreb, Samuel Schirmbeck. Darin vertrat er die These, sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen seien in Nordafrika und im Nahen Osten "die Regel und nicht Ausnahmen". Um zu einer vehementen Kritik am "linksliberalen Mainstream" auszuholen, der dies im Zeichen eines ideologischen Multikulturalismus ignoriere. Schirmbeck warnte, vor lauter Willkommenskultur unübersehbare Islamisierungstendenzen in muslimischen Ländern zu unterschätzen. Diese fänden sich zum Teil auch hierzulande in Islam-Gemeinden. Wasser auf die Mühlen der AfD-Klientel?

Nun legt Schirmbeck gehörig nach: In seinem Buch "Der islamische Kreuzzug und der ratlose Westen" setzt er sich kritisch mit hiesigen Islam-Debatten auseinander. Aufs Schärfste geißelt er die gängige Diskurs-Praxis, jeder Islam-Kritik latenten Fremdenhass zu unterstellen. Im Falle Schirmbecks machte man es sich damit tatsächlich zu leicht. Auch wenn er mit seiner Pauschalkritik am linken Milieu weit übers Ziel hinausschießt. Man könnte Schirmbecks Position leicht abtun, würde sie nicht durch prominente Stimmen aus der arabischen Welt gestützt, die er als Gewährsleute dafür anführt, dass der Islam radikaler Aufklärung bedarf, um seinen heutigen Dogmatismus zu überwinden. Das Gebot der wortwörtlichen Koran-Auslegung, betont der ARD-Mann, verhindere jede religiöse Selbstbestimmtheit auf Seiten der Muslime.

Soheib Bencheikh, bis vor wenigen Jahren Großmufti von Marseille, zitiert Schirmbeck mit den Worten: "Die Tiefe und die geistige Dimension des Korans wurden verschüttet. Stattdessen hat man millimetergenau nachgeäfft, was eine menschliche Person, nämlich der Prophet, getan haben soll. Man läuft Gefahr, den Islam auf dem Niveau der damaligen Beduinengesellschaft festzuschreiben und ihn für immer im sechsten Jahrhundert nach Christus festzunageln." Im Zeichen seiner radikalen Islamkritik sieht Schirmbeck ohne Trennung von Staat und Religion keine Chancen für einen weltoffenen Islam. Dieser setze auf die Angst vor Gott, um die Macht der Dogmatiker zu sichern.

Auch für seine provokanteste These, dass die Radikalisierung des Islam systemimmanent sei, mangelt es ihm nicht an intellektueller Rückendeckung. So meint der algerische Autor Kamel Daoud, bekannt geworden durch seine unter dem Titel "Der Fall Meursault" erschienene Replik auf Camus' Roman "Der Fremde": "Der ,Islamische Staat', das müssen wir begreifen, ist auch ein Teil von uns. Wir sind selbst schuld an dem, was passiert." Um den Islam von dem ihm eingeschriebenen Islamismus zu befreien, müssten allerdings - wie dies nicht-orthodoxe Islamforscher seit langem fordern - die militanteren, rigiden Koran-Verse der späteren Medina-Zeit des Propheten relativiert werden, die die früheren, spirituellen zurückgedrängt hätten.

Schirmbeck stützt sich auf konservative Islamkritiker wie etwa die Soziologin Necla Kelek, die Frauenrechtlerin Seyran Ates oder den Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der 1998 den Begriff der "Leitkultur" prägte. Wie diese kritisiert er den vermeintlichen Werterelativismus der Linken, der aus imperialen Schuldgefühlen und "zerbrochenem Selbstbewusstsein" den Islam verkläre. Tatsächlich sei dieser 1990 vielerorts moderner als heute gewesen. Anders als in ihren Herkunftsländern, wo der Schulterschluss von Politik und Religion dies verhindere, müssten Muslime in Europa gegen die konservativen Islamverbände opponieren, lautet Schirmbecks Schlussfolgerung.

Inwieweit der Islam längst selbstverständlicher Bestandteil des europäischen Alltags geworden ist, versucht die in Paris lehrende Soziologin Nilüfer Göle nachzuzeichnen. Zwischen 2009 und 2013 führte sie im Rahmen eines Forschungsprojekts in 21 EU-Städten Gespräche mit dort lebenden Muslimen. Allen Orten gemeinsam war, dass es dort zu Differenzen gekommen war: sei es durch den Bau einer Moschee oder durch die muslimische Lebensweise (vom Kopftuch- oder Burka-Tragen über den Handel mit Halal-Lebensmitteln bis zum Freitagsgebet).

Dass Göles Feldforschung wenig ergiebig blieb, liegt an ihrem interessegeleiteten Blick: Als sollten ihre Ergebnisse wunschgemäß das Bild eines aufgeklärten Islams liefern, entstammen ihre muslimischen Gesprächspartner so gut wie nie dem orthodoxen, konservativen Milieu. Damit entwertet Göle ihre Befunde. In Bologna, wo (anders als bei ihren anderen Interviews) "islamophobe" Parteigänger der Lega Nord mit diskutieren, bricht Göle das Gespräch "enttäuscht und wie vor den Kopf gestoßen ab". Was aber bringt eine Feldforschung, die sich nur selbst bestätigen will? Bezeichnend für die Suggestivität ihrer Herangehensweise ist auch Göles Behauptung, das Tragen eines Kopftuches sei "zu einem wesentlichen Symbol des modernen Islams geworden". Als Beweis dafür dienen ihr lauter aufgeklärte, berufstätige Muslima. Und all die anderen? Göle treibt Klischees mit Klischees aus. Es ist ja wahr: Integrierte Muslime gibt es zuhauf. Aber auch freiheitsberaubende Parallelgesellschaften.

Die Kernthese des Buches ist nichtsdestotrotz erhellend: Sobald Muslime ihre europäische Ghettoisierung an Stadträndern aufgeben wollen und offensiv "ein gleichberechtigtes Nebeneinander einfordern", entstehe bei Einheimischen oft ein Unbehagen, gepaart mit Abwehrreflexen und der Angst, Privilegien zu verlieren. "In dem Moment, wo der Vorteil etablierter Hierarchien und klar definierter Grenzen verschwindet, erscheint der Andere als eine Bedrohung." Damit dürfte sie recht haben.

Samuel Schirmbeck: Der islamische Kreuzzug und der ratlose Westen. Warum wir eine selbstbewusste Islamkritik brauchen. Orell Füssli, 285 Seiten, 19,95 €.

Nilüfer Göle: Europäischer Islam. Muslime im Alltag. Wagenbach, 299 Seiten, 24 €.

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