Preisverleihung bei der Berlinale Goldener Bär für umstrittenes rumänisches Drama

Berlin · Die Berlinale ist stets für eine Überraschung gut. Mit dem Goldenen Bären für den Film „Touch Me Not“ wird eine experimentierfreudige Filmemacherin geehrt. Die deutschen Beiträge gehen leer aus.

Am Ende hat es sich die Berlinale-Jury um ihren Präsidenten Tom Tykwer sehr leicht gemacht. Der „Goldene Bär“ für „Touch Me Not“ der Rumänin Adina Pintilie ist filmisch ein Witz, politisch aber ein eindeutiges Signal: Das semidokumentarische Drama zeigt die Suche einer Frau mit panischer Angst vor Berührungen, was sie dank einer Selbsthilfe-Gruppe, verschiedener Sexualtherapeuten und scheinbarer Tabubrüche überwindet.

In Zeiten der #MeToo-Debatte spiegelt diese Auszeichnung auch die kollektive Furcht der Filmbranche wider, verlorenes Vertrauen mit dem Blick auf positive zwischenmenschliche Kontakte wiederzugewinnen. Zugleich lässt sich der Preis als demonstrativer Schulterschluss der Jury mit dem umstrittenen Berlinale-Direktor Dieter Kosslick sehen, der #MeToo mit zahlreichen Sonderveranstaltungen zum Thema ausgerufen hatte.

Tom Tykwers Erklärung bei der Preisverleihung war symptomatisch: Man habe sich bemüht, die besten zukünftigen Filme des Wettbewerbs auszuzeichnen. Leider aber blieb dabei aus Sicht vieler Kritiker die Filmkunst im Wettbewerb des Jahres 2018 auf der Strecke.

„Touch Me Not“ wird von den Filmfiguren und im Umfeld der Berlinale-Premiere auch vom Team beständig als tabubrechendes Werk ausgegeben. Das ist ein ärgerlicher Etikettenschwindel. Zwar wartet der Film mit Bildern auf, die im Kino selten zu sehen sind und die auch etliche Besucher so sehr verstörten, dass sie vorzeitig den Saal verließen. Unter anderem ist zu sehen, wie behinderte Menschen sexuelle Praktiken testen und offen darüber sprechen. All diese vorgeblich bahnbrechenden Momente verlieren jedoch jede Sprengkraft durch ihre offensichtliche Inszeniertheit: Die Figuren erzählen entweder fiktive Geschichten oder werden von Selbstdarstellern wie dem ehemaligen Behindertenbeauftragten Christian Bayerlein oder dem isländischen Schauspieler Tomas Lemarquis verkörpert.

Von den Ängsten und Wünschen weniger öffentlichkeitserfahrener Menschen mit Behinderung erzählt der Film nichts und kann damit auch keine Furcht vor emotionaler Öffnung abbauen. Dass das Ganze monoton in den immer selben weißen Räumen und mit gestelzten Dialogen gefilmt ist, kommt noch hinzu: „Touch Me Not“ wirkt in erster Linie wie eine laienhafte Therapieaufzeichnung.

Im vorletzten Jahr von Kosslicks Amtszeit als Berlinale-Leiter ist dies der bedauerliche Ausgang eines insgesamt wenig überzeugenden Jahrgangs. Vor allem der Hauptwettbewerb präsentierte sich als Spiegel der Unsicherheit, in der sich das Filmfestival momentan befindet.

Deutlicher noch als die #MeToo-Debatte prägte dann auch die anhaltende Kritik an der Festivalpolitik die diesjährige Berlinale. Mit einem offenen Brief an Kulturstaatsministerin Monika Grütters, unterschrieben von 79 namhaften deutschen Filmschaffenden, hatte im letzten Jahr die Diskussion um Kosslicks Nachfolge einen neuen Höhepunkt erreicht. Nun steht fest: Kosslick konnte die Zweifel an seiner Person nicht entkräften. Unter den fast 400 Filmen fanden sich zwar herausragende Werke und auch viele der weiteren Jury-Auszeichnungen im Wettbewerb waren zum Teil hochverdient: Das feinsinnige Frauenporträt „Las herederas“ („The Heiresses“) etwa aus Paraguay gewann den Alfred-Bauer-Preis für neue Perspektiven der Filmkunst und den Preis für die beste Darstellerin Ana Brun. US-Regisseur Wes Anderson wurde für den furiosen Puppentrickfilm „Isle of Dogs“ geehrt und der 23-jährige französische Darsteller Anthony Bajon für das detailgenaue französische Sucht- und Religionsdrama „La prière“.

Bedauerlicherweise gingen die deutschen Filme im Wettbewerb leer aus. Dabei waren Philip Gröning mit seinem verstörenden Drama „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ und vor allem Christian Petzold mit der stimmungsvollen Verfilmung des 1942 entstandenen Romans „Transit“ von Anna Seghers lange als Favoriten auf den „Goldenen Bären“ gehandelt worden. Immerhin zeichnete die ökumenische Jury den stillen Liebesfilm „In den Gängen“ von Thomas Stuber aus. Ein kleiner Trost angesichts der zentralen Fehlentscheidung der Wettbewerbsjury.

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