Neue Ideen bei Klassikfestival Frischer Wind, aber keine heiße Luft

Kargow · Wie bringt man mehr Leben in den klassischen Konzertbetrieb? Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern zeigen es.

 Noch liegt Alexej Gerassimez, der Preisträger in Residence, auf der Wiese – doch bald erkundet er mit Publikum ein altes Reparaturwerk.

Noch liegt Alexej Gerassimez, der Preisträger in Residence, auf der Wiese – doch bald erkundet er mit Publikum ein altes Reparaturwerk.

Foto: Nikolaj Lund/Festspiele MV/Nikolaj Lund

Verblüfft laufen die 60 Besucher durch das Wäldchen im  Müritz Nationalpark. Nach dem sommerlichen Gewitter hängt über den Auen  die Feuchtigkeit schwer in der Luft, der Dunst lässt die Gedanken in die verwunschenen Wälder mythischer Geschichten schweifen. Doch die Blicke der Gruppe gelten den großformatigen Kunstwerken zwischen den alten Bäumen. Denn in diesem friedlichen Nirwana, wo Anfang des 20. Jahrhunderts ein Klavierbauer ein Jagdhaus errichtete und in den 1930ern Stars wie Marlene Dietrich und Heinz Rühmann zu Gast waren, ist nun, zwei Autostunden von Berlin entfernt, der Skulpturenpark Wesenberg samt angrenzender Galerien entstanden – und lässt die Besucher staunen.

„Wir wollen unser Publikum überraschen, in einen intensiven Dialog mit der Musik wie auch der Landschaft in der Umgebung bringen“, sagt Markus Fein. Was im ersten Moment verwundern mag, denn der 46-Jährige ist Intendant der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern (FMV) – ein Klassik-Festival als Motor für die Bildende Kunst? Für den Kulturmanager kein Widerspruch, denn der Besuch im Skulpturenpark ist Teil einer „Landpartie“ auf das mehr als 300 Jahre alte Gut Drosedow: Das bietet den Besuchern neben dem abendlichen Recital des  Pianisten Dmitry Masleev bereits am Nachmittag die (Rad-)Tour ins nahe Wesenberg mit Ausstellungsführung. Ein Angebot, das ebenso rasch ausverkauft war wie die anderen sechs Landpartien des dreimonatigen Festspielsommers, die wiederum nur eines von mehr als einem halben Dutzend neuer, kreativer Konzertformate sind.

Seien es nun die „Unerhörten Orte“, wo der diesjährige Preisträger in Residence Alexej Gerassimez auf seinen Schlaginstrumenten das Reparaturwerk Neubrandenburg erkundet und zuvor ehemalige Mitarbeiter durch den einstigen Volkseigenen Betrieb führen; sei es der dreitägige „Pavillon Mittelalter“, der diverse Konzerte des Vokalensembles Amarcord mit Lesungen, Gesprächen und Workshops zum Kloster- und Musikleben jener Zeit verbindet; oder auch die Idee „Ein Tag mit…“, der Gelegenheit bietet, Künstler von verschiedenen Seiten kennenzulernen – wie in diesem Sommer Matthias Kirschnereit: Auf Schloss Schwiessel präsentiert sich der Pianist erst in einem öffentlichen Meisterkurs mit Studenten, plaudert nach einer Schlossführung im Salon mit Weimars Musikhochschulpräsident Christoph Stölzl über die Romantik in Musik und Literatur, um nach einem Spaziergang samt Lesung im wild-romantischen Landschaftspark dann am Abend voller Feinsinn in Brahms‘ f-moll-Sonate einzutauchen: „Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint…“

Kirschnereit schwärmt: „Das ist eine wunderbare Therapie der Entschleunigung.“ Die trifft offenbar den Nerv des Publikums: Mögen die reinen Konzerte im Rahmen dieser neuen Formate auch einzeln buchbar sein, als erstes vergriffen sind stets die Komplett-Angebote – selbst wenn diese wie im Falle des „Fokus Beethoven“ mit einem zweitägigen Seminar zum Komponisten keineswegs leichte Kost bieten. Was Fein auf seinem Weg bestätigt: „Wir wollen einen Schritt raus tun aus der Routine und Selbstverständlichkeit, wie Konzerte im Kulturbetrieb ablaufen. Denn immer mehr Menschen möchten dies Kulturerlebnis vertiefen.“

Rund 30 der über 130 Veranstaltungen dieses Musiksommers bieten mehr als das klassische Konzertprogramm. Das Festival liefert neue Ideen und Formate, die nicht selten auch andernorts den Weg ins Konzertleben finden: So gehört die FMV-Idee, das Publikum mitten im Orchester Platz nehmen zu lassen, am Berliner Konzerthaus inzwischen zu einem der beliebtesten Formate. „Festivals legitimieren sich dadurch, Dinge anzustoßen, innovativ tätig zu sein und den Musikbetrieb zu beleben“, skizziert Fein sein Denken jenseits des reinen Konzertbetriebs. Und Kirschnereit sieht sogar noch eine weit nachhaltigere Wirkung: „Das Publikum wird aufgefordert, sich mehr mit der Materie auseinanderzusetzen, hört mit ganz anderen Ohren und zehrt noch lange von solch einem Tag.“

Doch was den Pianisten, viele Kollegen und die Zuhörer begeistert, freut  Künstleragenten und Manager weniger: Lassen sich doch solch ungewöhnliche Formate wie Gerassimez‘ dreitägiges Percussionfestival „360° Schlagzeug“ auf Schloss Ulrichshusen – mit Gesprächen, Klangwanderungen und Interpretationsvergleichen – andernorts kaum wiederholen. Was die kühlen Rechner im Klassikgeschäft nicht jubeln lässt. Anders die Musiker selbst: Sie schätzen es, wenn Fein auf sie mit der Frage zukommt: „Was können wir dir hier bei den Festspielen ermöglichen, dass du sonst nicht machen kannst?“.

Eine Carte Blanche, die dann etwa zur  „Inselmusik“ führt, bei der drei Streichquartette drei Tage in Folge Rügen auf geführten Touren erkunden. Diese „Inselmusik“ war zügig ausverkauft. Nicht allein deshalb sind  in Mecklenburg-Vorpommern neue Konzertformate sehr willkommen, wenn sie denn aus der Musik heraus entwickelt werden. Denn bei aller  Experimentierfreude steht für Fein eines im Zentrum: „Wir haben stets die Musik im Blick.“ Hier kann sich jedenfalls manches Konzerthaus oder -Festival  auf der Suche nach neuen Formaten  tönende Blaupausen finden.

Bis 15. September. Infos und Karten unter www.festspiele-mv.de