Buchkritik von Frank Witzels „Inniger Schiffbruch“ Schreiben gegen den Verlust

Saarbrücken · Frank Witzels aufschlussreiches Erinnerungsbuch „Inniger Schiffbruch“ erkundet nach dem Tod seiner Eltern ihr Leben – und damit letztlich auch sein eigenes.

 Buchcover von Frank Witzel: Inniger Schiffbruch. Matthes & Seitz

Buchcover von Frank Witzel: Inniger Schiffbruch. Matthes & Seitz

Foto: Verlag Matthes & Seitz

Ein Erinnerungsbuch ist dies, das lange nachhallt. Weil dessen Erklärungsmuster und Suchbewegungen im Leser fortwirken. Als Frank Witzels Eltern gestorben sind, spürt der Sohn, Schriftsteller von Beruf, dass er ihren Tod und sein eigenes Zurückbleiben literarisch verarbeiten muss. Erinnerungen werden hochgespült, Träume bringen Verschüttetes zu Tage, ohne ihre Rätselhaftigkeit einzubüßen. Begegnungen und Erlebnisse werden vergegenwärtigt, umgedeutet, hinterfragt. Unter der Hand stellt Witzel vielerlei Überlegungen darüber an, was die Identität eines Menschen eigentlich ausmacht. Und ob es möglich ist, schreibend die Existenz eines Anderen zu bewahren, ohne sie zu verfälschen. Aus alledem baut er eine Art autobiografischen Roman, der grundlegenden Fragen nachgeht: Was und wie erinnern wir? Wie wird man einem nahestehenden Menschen gerecht? Und ist das Alltägliche dabei nicht wichtiger als das Besondere? Und zuletzt doch das Nicht-Gesagte wirkmächtiger alles Gesagte?

Witzel, der für seinen 70er-Jahre-Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Jahr 1969“ 2015 den Deutschen Buchpreis bekam und damit auf einen Schlag bekannt wurde, zeichnet in „Inniger Schiffbruch“ seine Auseinandersetzung mit dem Tod der Eltern nach. Je tiefer er sich dabei in den Schlund des Vergangenen hineinziehen lässt, umso mehr wird er sich dabei seiner eigenen Prägung bewusst. Je länger er sich mit den Memorabilien der Eltern beschäftigt – Fotos, Dias, Kalender, Tagebücher, Briefe, das Elternhaus in Wiesbaden und dessen Mobiliar – desto deutlicher zeigt sich, wie wenig er über beide wusste. Emotionen zu zeigen, war den Eltern zeitlebens fremd. Witzel spürt, dass er die eigene Familiengeschichte nur „durchbluten“ kann, wenn er die Interessen, Gewohnheiten, Ziele und Eigenarten der Eltern zu greifen bekommt. Immer wieder fragt sich Witzel, inwieweit sein Instrumentarium – die Sprache – dabei verfängt. Und ob die eigenen Erinnerungen denen der Eltern je gerecht werden.

Genau dieses Infragestellen diversester Selbst- und Welterkundungen macht den Reiz des Buches aus, das sich weder mühelos „herunter lesen“ noch sich eigentlich Roman nennen lässt. Stattdessen lässt uns Witzel teilhaben am Versuch, mit literarischen Mitteln das Sammelsurium seiner Erinnerungen zu objektivieren. Das Interessante und gleichermaßen Schwierige an Witzels Buch ist dessen Prinzip, diese Vergangenheitsschau in ihrem Ertrag ständig zu hinterfragen, das „Beachten des Nicht-Beachteten“ einzubeziehen und überdies „nur dann zu schreiben, wenn ich von Gefühlen überwältigt war, also gerade nicht schreiben konnte“. Mit anderen Worten: Der Schreibprozess selbst, ja der Modus des Erkennens wird in Witzels Spurensuche permanent mit verhandelt. Gleichzeitig überlappen sich darin Anteile dokumentarischen und fiktionalisierten Erzählens.

Die Crux des Buches besteht darin, dass der Autor Witzel dabei, wie es einmal heißt, einerseits versucht, „meine Familiengeschichte abzuschließen“, andererseits aber eins ums andere Mal deutlich wird, dass diese abgerundeten Ecken, dieses Einfahren der Vergangenheitsernte eine völlige Illusion ist: „Ich erfuhr immer nur, was etwas nicht war, nie aber, wie es hätte sein können.“ Mehr und mehr wird genau dies, die Vergeblichkeit abschließenden Erkennens, zum untergründigen Kernthema des Romans.

Ausdauernd beschreibt Witzel, Jahrgang 1955, seine Kindheit in einem bildungsbürgerlichen Haushalt der späten 50er. Der Vater ist Organist und Chorleiter in katholischen Diensten, die Mutter eine aus begüterten Verhältnissen stammende Familienregentin von asketischer Strenge, die ihre polnische Heimat während des Krieges fluchtartig verlassen musste. Die ehernen, noch dazu katholisch überhöhten Moralvorstellungen der Nachkriegszeit mit ihrer festen Taktung der Tage, ja selbst der Wochenenden, und das Prinzip kollektiver Verdrängung im Zeichen einer „gut ausgepolsterten Mittelmäßigkeit“ tun das ihre dazu, dass der Autor (und sein jüngerer Bruder) in keinem sonderlich liberalen Haushalt aufwächst. „Seit frühester Kindheit“, schreibt Witzel etwa, „hatte ich mit ausrasiertem Nacken, freien Ohren und einem mit dem nassen Kamm gezogenen Scheitel herumlaufen müssen.“

Beständig wechselt das Buch die Perspektiven. Witzel knüpft zum einen immer wieder Erinnerungsfäden in die Kindheit, um daraus einen Detail-Kokon (TV-Programme und Musik der 60er, Szenen am Esstisch, Urlaubsreisen, Rituale) zu spinnen. Ein paar Seiten später ist er wieder ganz mit seiner Gegenwart beschäftigt, thematisiert seine Schreibnöte, sucht gedankliche Impulse in Schriften von Theodor Adorno, Roland Barthes, Thomas Bernhard und Imre Kertész oder lotet gedanklich die Grenzen des Sagbaren aus. Als kompositorisches Skelett dienen dem Buch in erster Linie Assoziationsketten – mutmaßlich mit bedingt durch eine Psychoanalyse, der sich der Autor während der Arbeit an seinem Erinnerungsbuch unterzog.

Witzels puzzleartig zusammengesetztes Werk ist nicht ohne Längen, manche Passage wäre gut und gerne verzichtbar gewesen. Aufs Ganze betrachtet legt „Inniger Schiffbruch“, benannt nach einem Vers eines von Rilke übersetzten Gedichts von Giacomo Leopardis, jedoch viele ergiebige gedankliche Fährten aus. Etwa, wenn er schreibt, „dass genau das, was einen einmal erfüllt hat, später eine eigenartige Leere hinterlässt“, oder er über den Zweck des Trauerns notiert: „Der Sinn der Trauerzeremonien bestand in einer Abstumpfung, die dem metaphysischen Sehnen den Stachel nahm.“

Das vielleicht Schönste an diesem Buch ist neben seiner Ungeschütztheit Frank Witzels Gabe, das Ineinanderfließen unterschiedlicher Wahrnehmungsebenen greifbar zu machen. Etwa, wenn er sich an Begegnungen mit seinem totgeweihten Vater erinnert und dabei außer dem Erinnernden zugleich der Witzel von damals ist, das Kind. Dass er in seiner Erinnerungsarbeit „willentliche“ von „nicht-willentlichen“ Erinnerungen unterscheidet, illustriert, was mit diesem Überblenden von Zeit-, Gefühls- und Existenzräumen gemeint ist.

 Frank Witzels Buch ist der Versuch, sich an Vergangenes zu erinnern und schreibend die Existenz seiner Eltern zu bewahren.

Frank Witzels Buch ist der Versuch, sich an Vergangenes zu erinnern und schreibend die Existenz seiner Eltern zu bewahren.

Foto: dpa-tmn/Mascha Brichta

Frank Witzel: Inniger Schiffbruch. Matthes & Seitz, 356 Seiten, 25 €.

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