„Entfaltet Euch“: Quartett mit Joker

Saarbrücken · Vier alleinstehende Frauen, alle über Fünfzig, quetschen sich in einen Fiat und lassen sich von einem Chauffeur von Remerschen über Trier bis in die Vogesen fahren. In Dagmar Leupolds neuem Roman hockt ziemlich viel unterdrückte Lebenslust mit im Auto.

 Eine der interessantesten Gegenwartsautorinnen: Dagmar Leupold (61). Foto: picture-alliance/dpa

Eine der interessantesten Gegenwartsautorinnen: Dagmar Leupold (61). Foto: picture-alliance/dpa

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Seine Fische heißen Nietzsche, Benjamin, Kierkegaard. Ansonsten lebt er allein. So, wie er an seinem Bier nuckelnd vor dem Aquarium hockt, ist er alles andere als leicht vermittelbar. In jeder Beziehung. Da helfen auch seine Studien in Philosophie und Geschichte wenig. Im Gegenteil. Außerdem hinkt Bendix und stottert. Jung ist er auch nicht mehr. Dennoch passiert es.

"Wir (4 Frauen ü50) suchen für eine Bildungsreise einen Chauffeur mit Führerschein Klasse I und Fremdsprachenkenntnissen", stand in einer Anzeige im Moselboten. Er ist der beste von 23 Bewerbern, weil ihm Aufbrechen wichtiger ist als Einparken zu können. Geparkt fühlen sie sich lange genug - Laura, Penelope, Dorothea und Beatrice -, ratlos und übrig. Sie kennen sich seit ihrer Einschulung in Berlin, dann sind sie nacheinander nach Steinbronn gezogen, das zwischen zwei Moselarmen ohne Zugluft und Bahnhof auskommen muss, seine Weinberge pflegt und die Langeweile. Ein Ort, wo Leben im zweiten Stock das Höchste ist. Hier in der Provinz haben sie ihr Auskommen als Logopädin, Lehrerin, Gärtnereibesitzerin und Feldenkrais-Therapeutin. Und sie haben sich, sei es für die verbalen Gefechte im Miteinander, sei es für die Restlust nach Abenteuer. Dagmar Leupolds Roman installiert sie wie eine Typologie der Singleeinsamkeit in den mittleren Jahren.

Nun wollen sie nicht mehr nur an ihrem Amazonenstammtisch hocken, sondern müssen mal raus. Also zwängen sie sich in einen Fiat, der treffend Ulysse heißt, und fahren der Nase nach über Trier, Bussang, Remerschen bis Hartmannswillerkopf, einem großen Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs. Und immer wenn sie irgendwo Station machen - sie haben kein Ziel, aber sind ungeduldig, es zu erreichen -, fordert Philosoph Bendix mindestens doppeldeutig beim Aussteigen aus der Coupé-Enge: "Entfaltet euch." Dann ist nach einer Panne Schluss mit lustig, viel Entfaltung war auch noch nicht. Es beginnt das große Erzählen als eigentlicher Befreiungsvorgang. Jede der Reisenden breitet ihre Geschichte hin, Bendix wird in diesem Quartett zum Joker und hat am Ende fast so etwas wie Hoffnung.

In ihrem neuen Roman feiert Dagmar Leupold die Macht des Erzählens. Oder beabsichtigt es zumindest. Wieder ist alles von Melancholie grundiert, und das Vergnügen am Plot bleibt zumeist ein behauptetes. Verwundete Seelen in einer Singlegesellschaft suchen unterwegs sich und ihren Ort, wobei Leupold sie viel Kapriziöses sagen und denken lässt. Das drosselt das Tempo und lässt alles ins Verbalgepose abstürzen, trotz vieler neckischer Details. Dagmar Leupold zeigt ihre Werkzeuge einen Tick zu demonstrativ, was in der Summe das Wortgeklingel über die Story siegen lässt. Metaphernüberladen und gewollt originell verliert das Buch an Fahrt. Viel Charme hat es dennoch.

Dagmar Leupold. Die Witwen. Ein Abenteuerroman. Jung und Jung. 234 S, 22 €.

Lesung am Montag (19.30 Uhr) in der Stadtbücherei St. Ingbert.

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