Englands grüne Pop-Wiese

Der Dienstag war ab 19.05 Uhr heilig. Ab da verkündete Moderator Bernd Mohrhoff bei SWF3 die Top 30-Hits aus England. Dort schienen sich die Menschen einfach bessere Schallplatten (so nannte man das in den 80ern) zu kaufen als hier, wo Bands wie Barclay James Harvest oder Toto eine gewisse Ödnis verbreiteten.

Wenn Mohrhoff die Neueinsteiger spielte, angekündigt von einem wonnevollen "Njjjuuuuuuhhh!", war das wie ein Blick auf eine saftig grüne Pop-Wiese. Dort hüpften Bands mühelos in einer Woche von Null auf Platz eins, die bei uns nur unter "ferner liefen" liefen: die Mod-Rocker The Jam etwa mit "Going Underground". Andere Bands waren omnipräsent, die bei uns nur als One-Hit-Wonder galten: Madness etwa, eine britische Institution, von der bei uns im Radio seit 500 Jahren nur "Our House" läuft. Auch reichlich Obskures trieb sich dort herum, es gab viel zu entdecken.

Die Krönung dieser wöchentlichen Andacht war das Führen einer Statistik auf einem kleinen Papierblock, mit Prognosen, wohin es mit den Hitsingles in der nächsten Woche gehen würde: Nach oben? Nach unten? Oder ganz raus? Denn im Gegensatz zur trägen deutschen Hitparade war die britische quecksilbrig. Da konnte es vorkommen, dass eine Single aus dem Nichts in die Top 10 hüpfte und eine Woche später schon wieder abrutschte. So geschehen 1982 mit der Single "We take mystery" des bleichen Elektropoppers Gary Numan, einem meiner fast lebenslangen Idole. Wegen dessen bizarrer Auftritte (und auch Plattenhüllen) war ich über Jahre des galligen Spotts meiner Freunde sicher.

In Deutschland war Numan nie eine große Nummer, in England schon. Das machte die Insel für mich zum Sehnsuchtsort: Auch wenn man zuhause veralbert wird, gibt es da ein fernes gelobtes Land, in dem viele Menschen so denken (und kaufen) wie man selbst. Reichlich naiv war das natürlich - aber es half.

Wenn die wöchentliche Dosis Hitparade ausblieb, war das erschütternd: Als die Sendung einmal ausfiel, griff ich zum Telefon, ließ mich via Telefonauskunft mit dem Südwestfunk verbinden und fragte mich bis zum Moderator Mohrhoff durch. Der erklärte geduldig, in England sei Feiertag, ich solle mir also bitte keine Sorgen machen. Großes Aufatmen.

Irgendwann geschah dann das Unausweichliche: Ich wuchs ein wenig aus dem Pop heraus, und ob eine Single nun Platz 19 oder 23 erreicht, war keine ganz dramatische Frage mehr. Aber einige Jahre später lernte ich einen Bruder im Geiste kennen, mit dem man die Listen und Statistiken von einst nochmal endlos und mit aller Pop-Inbrunst diskutieren konnte. Er war (und ist), wen wundert's, ein Engländer.

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