Elton John, Springsteen und Co. Die besten Seiten des Rock

London · Autobiografien der Giganten des Pop sind Hits auf dem Buchmarkt. Warum sehnen sich Leser nach diesen Geschichten?

 Popstar und inzwischen auch Autor: Sir Elton John, hier im Oktober bei einem Auftritt in Los Angeles.

Popstar und inzwischen auch Autor: Sir Elton John, hier im Oktober bei einem Auftritt in Los Angeles.

Foto: AP/Matt Sayles

In Colorado war das, und zwar im Jahr 1975, da sollte Elton John kurz mal zu den Rolling Stones auf die Bühne kommen und als Gast in den Song „Honky Tonk Women“ einsteigen. Weil backstage aber gerade so viel Kokain herumlag, schnupfte der ohnehin bestens aufgelegte Elton John einfach noch ein bisschen mehr als sonst, bevor er auf die Bühne stieg. Als das Lied zu Ende war, ging er denn auch gar nicht wieder hinunter, wie es verabredet gewesen war, sondern blieb und spielte immer weiter und machte den zweiten Keyboarder und fühlte sich stoned enorm wohl bei den Stones. Dass Keith Richards ihn die ganze Zeit so eigenartig anstarrte, weil er natürlich von Elton Johns Brillanz überwältigt war, spornte ihn nur noch mehr an. Erst allmählich dämmerte dem Gast, dass er gerade Mist gebaut und ein Konzert versaut hatte und dass Keith Richards nur deshalb so schaute, weil er ihm gleich Gewalt antun würde. Doppelte Ernüchterung sozusagen. Auf die Aftershowparty wagte sich Elton John jedenfalls nicht mehr.

Solche Anekdoten lässt Elton John dutzendfach vom Stapel in seiner eben erschienenen Autobiografie, die lakonisch, aber auch sehr treffend mit „Ich“ betitelt ist. Er erzählt sein Leben, er erzählt es genau so, wie man das erwartet hat: viel Herz, bisschen too much, aber total amüsant. Der Musikjournalist Alexis Petridis vom „Guardian“ hat ihm dabei geholfen, und man munkelt, dass Sir Elton weit mehr als zehn Millionen Dollar an Vorschuss bekommen hat. Irre Summe für einen Paperback Writer? Nicht, wenn man weiß, dass Rockstar-Biografien gerade der Hit auf dem Buchmarkt sind.

Vielleicht liegt es daran, dass die großen Helden der 1960er und 70er Jahre allmählich abtreten, aber Leser dürsten offensichtlich nach den Berichten der Dinosaurier der Popkultur. Für seine 2010 erschienenen Memoiren erhielt Keith Richards sieben Millionen Dollar Vorschuss, Bruce Springsteen bekam für das Buch „Born To Run“ zehn Millionen, und allein in den USA verkauften sich davon in der ersten Woche fast 120 000 Stück.

Dabei sind die Bücher keine Trash-Produkte mehr wie noch in den 1980er Jahren, als solche Bände mit Slogans wie „Die offizielle Geschichte!“ beworben wurden. In Rockstar-Biografien hat eine neue Ernsthaftigkeit Einzug gehalten. Die Musiker versuchen, die Deutungshoheit über das im Spätherbst stagnierende Werk zu halten, den eigenen Nachruhm zu kuratieren. Springsteen etwa erzählt von seinen Depressionen, er zeichnet das Bild des melancholischen Denkers hinter der hemdsärmeligen Kunstfigur. Und Elton John nutzt die Gelegenheit, alles zu gestehen, womit er einst über die Stränge schlug. Coole Katharsis: Natürlich erzählt er aus der Warte des Geläuterten, und er stellt sich beim Beichten einen Beichtvater in glitzernder Soutane vor, der verständnisvoll zwinkert und das alles nicht so schlimm findet, weil auch er weiß: God is a DJ.

Die besten Passagen der großen Biografien erzählen von jenen Jahren, als die Helden noch Normalsterbliche waren. Und vielleicht ist es das, was sie neben dem Glamour-Gossip fürs Gros der Leser interessant macht. Auf dem Höhepunkt des Ruhms lebt ja jeder Rockstar ähnlich und gleich langweilig: neue Platte, neue Tour, neuer Höhepunkt, Drogen, Isolation, Absturz. Auf dem Weg zur Satisfaction erleben sie hingegen das Aller­schönste: Freundschaft. Rockstarbiografien sind Liebesgeschichten. Da treffen sich Gleichgesinnte, die unterschiedlich ticken, aber eine gemeinsame Heimat in der Musik finden: Keith und Mick, Debbie Harry und Chris Stein, Elton John und sein Texter Bernie Taupin. Sie werden zu Blutsbrüdern, die dem Wind mit der Faust drohen. Nichts hält sie auf.

Coming Of Age nennen die Engländer und Amerikaner das Erwachsenwerden, und genau davon handeln diese Biografien. Nicht nur vom Erwachsenwerden der Autoren, sondern darüber hinaus von dem der noch jungen Popkultur: Diese Bücher erzählen, wie wir wurden, wer wir sind. Brett Anderson, der Kopf der Band Suede, formuliert diesen Anspruch in dem Band „Afternoons with the Blinds Drawn“ sehr schön: „Transcend the everyday to reach for the heightened state“.

Das in diesem Sinne schönste Buch stammt von der Band
Madness und ist kürzlich auf Englisch erschienen. Diese Liebesgeschichte hat sieben Hauptpersonen, die Mitglieder der Gruppe halt, und die entwerfen eine Sozialgeschichte des Aufwachsens in Kentish Town im Norden Londons. Sie sind erst eine Gang und werden dann eine Band, und weil man den Rest der Geschichte ohnehin kennt, endet das Buch mit der Veröffentlichung der ersten Madness-Single 1979. Mehr will eh kein Mensch wissen.

Das Schöne an dieser Art Buch ist, dass man den Soundtrack stets mitgeliefert bekommt. Wer Elton John liest, summt in Gedanken immerzu „I’m Still Standing“. Die Nachfrage nach dieser Sound-Schreiberei ist so groß, dass auch Kulthelden, die früher nur wenige Platten verkauften, jetzt große Auflagen mit ihren Büchern erreichen und an ihren Einfluss erinnern können. Tracey Thorn von der Band Everything But The Girl ist ein Beispiel, auch Viv Albertine (The Slits) und Carrie Brownstein (Sleater-Kinney) gehören dazu. Patti Smith ist Jüngeren seit der Veröffentlichung von „Just Kids“ sogar eher als Schriftstellerin ein Begriff denn als Musikerin. Und für die nun erschienene Autobiografie von Prince genügte ein handgeschriebenes Kapitel, das von seiner Kindheit handelt. Der Künstler starb während der Niederschrift, und dennoch ist der vorliegende 300-Seiten-Band „The Beautiful Ones“ ein berührendes Dokument: Es wurde um Handschriften und Fotos angereichert, man kommt Prince wundersamerweise so nahe wie nie zuvor.

Mit dem fast 500 Seiten starken Buch von Elton John mag die Popularität der Biografie ihren Zenit erreicht haben. Einen Musiker gibt es aber noch, von dem man sich die endgültige Rückschau erhofft. Die „Financial Times“ nennt die unveröffentlichten Memoiren Mick Jaggers den „Moby Dick“ des Genres. Noch konnte den Stones-Sänger jedoch kein Verleger überreden.

Doof, aber: You Can’t Always Get What You Want.

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