Böll-Tagung Einer, der kein „Vorzeige-Idiot“ sein wollte

Freiburg · Eine Tagung in Freiburg fragte kurz vor dem 100. Geburtstag von Heinrich Böll am 21. Dezember nach dessen Bedeutung heute.

 Nobelpreisträger Böll mit seiner Frau Annemarie 1983 bei der Blockade des US-Militärdepots in Mutlangen, einem der Protest-Höhepunkte der damaligen Friedensbewegung  gegen das Wettrüsten in Ost und West.

Nobelpreisträger Böll mit seiner Frau Annemarie 1983 bei der Blockade des US-Militärdepots in Mutlangen, einem der Protest-Höhepunkte der damaligen Friedensbewegung  gegen das Wettrüsten in Ost und West.

Foto: dpa/Harry Melchert

 Man schätzt oder belächelt ihn als „guten Menschen von Köln“, man kennt vielleicht gerade noch sein Irland-Buch oder „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Aber wirklich gelesen oder gar als Hoffnungsträger verehrt wird Heinrich Böll schon lange nicht mehr. Selbst in Osteuropa ist der Freund aller Dissidenten kaum noch präsent, wie etwa der ungarische Autor György Dalos beklagt. Kann es sein, dass die Prosa des Literaturnobelpreisträgers nicht zur Weltliteratur gehört? Noch am besten gealtert sind wohl seine Erzählungen.

Böll war jedenfalls der bedeutendste Vertreter des politischen Katholizismus in Deutschland nach 1945 und ein reiz- und streitbarer Geist, der keinem Strauß (schon gar nicht Franz-Josef) aus dem Weg ging. Immer auf der Suche nach einer „bewohnbaren Sprache in einer bewohnbaren Welt“, verteidigte er die spröde Trümmerliteratur und den Waschküchen-Realismus, hatte aber auch keine Angst vor Kitsch und pastoralem Pathos.

„So jemanden wie ihn findet man heute nur selten“, klagt sogar das Bundesfinanzministerium, das gerade eine Briefmarke zu Ehren des Mannes mit dem Dackelblick und der Baskenmütze herausgab. So einen brauchen wir heute dringender denn je, sagte Petra Olschowski, grüne Staatsekretärin im Stuttgarter Kunstministerium, in ihrem Grußwort zu der Freiburger Tagung: einen Künstler, radikal und unbestechlich, der ständig „zu weit geht“ und nie Ruhe gibt. Ihr Wort in Merkels und Kretschmanns Ohren. Bölls 100. Geburtstag am 21. Dezember steht an. Vor Wochenfrist riefen Katholische Akademie, Böll-Stiftung und Deutsches Seminar zu einem Symposium nach Freiburg, und alle kamen, um in sechs „Ateliers“ und drei Sektionen Werk und Leben Bölls zu diskutieren: Literaturwissenschaftler und ausgewiesene Böll-Kenner wie Bernd Balzer und Ralf Schnell, Theologen wie Karl-Josef Kuschel, Historiker, Freunde, Weggefährten und nicht zuletzt Bölls Sohn René.

Morgens gingen sogar Agnostiker wieder zur Messe, abends teilten die Tagungsteilnehmer gut katholisch Wein und das „Brot der frühen Jahre“. Auf die religiöse Überhöhung der „frischen blonden Brötchen“ und Bäckerinnen im Ouevre Bölls wies auch Literaturkritiker Helmut Böttiger in seinem Eröffnungsvortrag hin. Er entwarf ein düsteres Bild der frühen Adenauerzeit, als Böll sich mit damals noch mächtigen Institutionen wie Kirche, Militär und CDU anlegte. Es war eine Zeit „schwüler Stille“, politischer Restauration und geistiger Enge. Umso „tragischer“, dass Böll sich damals mit seinem Freund Paul Celan überwarf: Der sensible Celan fühlte sich von Böll im Stich gelassen in seinem Kampf gegen den wiederauflebenden Antisemitismus, der empfand den Vorwurf als „Frechheit“.

Das böse Wort „Gutmensch“ wurde quasi für Böll erfunden. Er war, so Böttiger, ein Idealist, ein kämpferischer Moralist, ein „Antikonformist“, der die Solidarität der Einzelgänger feierte. Aber er war eben auch die Nervensäge, der Querkopf, der, allergisch gegen Gruppenzwang und Vereinnahmung, selbst Freunde vor den Kopf stieß. Das wurde ihm nach 1989 zum Verhängnis. Der Mann der Stunde war nun der wendige Enzensberger, die angesagte Haltung Coolness und Ironie. Was lange als kritisches Engagement gefeiert wurde, galt plötzlich als „linker Alarmismus“ und Kulturpessimismus.

In der Diskussion brach der Germanist Bernd Balzer eine Lanze für den selbstreflektierten Sprachkünstler Böll. Sprache sei für ihn Waffe, Geliebte und Rose gewesen, das stelle ihn in eine Reihe mit modernen Autoren wie Baudelaire und Victor Hugo. Ob ausgerechnet Bölls Sprache der Sexualität modern war, darf man indes bezweifeln: Er prägte zwar schöne Wörter wie „Vereinigungsonkel“, kam aber bei der Beschreibung fleischlichen Verlangens selten über katholisch verdruckste Wendungen wie „die Sache tun“ hinaus.

Hannes Heer, der als Kurator der Wehrmachtsausstellung selber das aggressive Verdrängen und Beschweigen deutscher Geschichte erlebt hat, unternahm eine Ehrenrettung Bölls als öffentlicher Intellektueller in der Tradition von Zolas „J‘accuse“. „Vergangenheitsbewältigung“ und Wiederbewaffnung, der „Stellvertreter“-Skandal, Notstandsgesetze, Studenten- und Friedensbewegung: Kaum ein Thema, in das Böll sich nicht mit geharnischten Worten, Unterschriften oder Sitzblockaden eingemischt hätte. Dabei kamen auch Böll selber immer öfter Selbstzweifel. War seine (ungeliebte) Rolle als Gewissen der Nation nicht eine deutsche „Anomalie“, ein Alibi? Man stilisierte ihn in Ermangelung einer funktionierenden Öffentlichkeit und kritischer Medien zum Messias.

 Böll wollte nie ein „prominenter Vorzeige-Idiot“ und „Schreihals vom Dienst“ werden. Deshalb trat er nicht nur aus der Kirche, sondern auch aus der staatstragend gewordenen Gruppe 47 aus. Adorno feierte ihn dafür als unverfügbaren Intellektuellen. Für den Soziologen Ulrich Bröckling ist Böll vor allem der „katholische Anarchist“, und für Markus Schäfer vom Böll-Archiv ist die Frage, ob Böll noch zeitgemäß sei, überhaupt eine Frage der Fantasie: „Aktualität findet im Kopf statt, nicht im Feuilleton“.

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