Ein Stück bestes Amerika

Saarbrücken · Eigentlich kann man bei einem Evergreen wie der „West Side Story“ nicht allzu viel falsch machen. Staatstheater-Choreograph Stijn Celis aber macht mit einer großartigen Besetzung sogar fast alles goldrichtig.

 Gangs of New York: So viel Kulisse ist eher die Ausnahme in Stijn Celis Inszenierung der „West Side Story“. Der Saarbrücker Ballettchef setzt auf eine reduzierte Bühne, die den Stoff – mit Blick auf die Flüchtlingsproblematik – auch sehr aktuell wirken lässt. Fotos: Bettina Stöß

Gangs of New York: So viel Kulisse ist eher die Ausnahme in Stijn Celis Inszenierung der „West Side Story“. Der Saarbrücker Ballettchef setzt auf eine reduzierte Bühne, die den Stoff – mit Blick auf die Flüchtlingsproblematik – auch sehr aktuell wirken lässt. Fotos: Bettina Stöß

Man war ja schon drauf und dran, seinen Glauben an Amerika zu verlieren. Seit hinterm großen Teich die Ver-Trumpung grassiert und ein miserabel frisierter Krawallbruder sich anschickt, Präsident der mächtigsten Demokratie der Erde zu werden. Mitnichten ein Comedy-Späßchen, sondern Albtraum real. Seien wir also dem Staatstheater schon deshalb dankbar, dass es nun ein Stück des guten, ja des besten Amerika auf den Spielplan gesetzt hat: die "West Side Story" mit Leonard Bernsteins unvergänglicher Musik. So lebensgierig, alles umarmend wie der Komponist war, geriet ihm auch seine Schöpfung: Fugenkunst und Jazz, Klassik und Latino-Pep. Ein irrer Mix.

Und eines weiß man schnell in Saarbrücken, wenn auf der Bühne Liebe Leiden schafft und im Grabendunkel offenbar nicht mehr der honorige Generalmusikdirektor Milton und das Staatsorchester am Werk sind, sondern "Nick & the Sound-Sharks" mitreißend grooven und Liebeschwüre satt auf fetten Streicherschmelz betten: Eine Ewigkeit vermisste man dies Musical hier. Vor 25 Jahren lief es letztmals.

Jetzt, fast auf den Tag genau 59 Jahre nach der Uraufführung in New York ist es wieder da. Und weder Story noch Musik alterten. Klar liegt das auch an den edlen Vorfahren der Gangs of New York, die Bernstein nach seinen Noten tanzen lässt. Tony und Maria geben ein spiegelgleiches Glücks-&-Unglückspaar zu Romeo und Julia ab. Bloß, dass es keine noblen Veroneser sind, die die Liebe des jungen Paares unter blindem Hass zermalmen. Hier sind es puertoricanische Einwanderer, die "Sharks," die im gelobten Land der Neuzeit auch ihr Stück vom Glück wollen. Die, die schon da sind, die "Jets", haben was dagegen. Aus tausend gefühlten Gründen.

Das macht die "West Side Story" so unbedingt zum Stück unserer Zeit. Weil es um Menschen geht, die getrieben von Not in ein anderes Land aufbrechen, dort heimisch werden wollen. Und sich mit jenen auseinander setzen müssen, denen alles Fremde suspekt scheint. Die USA begleitet das von Anbeginn an. In Deutschland tun sich viele noch schwer, zu akzeptieren, dass eine Gesellschaft, die sich Neuankömmlingen öffnet, sich damit nicht notwendigerweise selbst verrät. Von eben diesen Mechanismen, den gefährlichen, ja tödlichen Folgen von Starrsinn und Intoleranz erzählt die "West Side Story", die man ergo auch als Molenbeck- oder Neukölln-Story erzählen könnte.

Stijn Celis, Regisseur und Choreograph, kam allerdings gar nicht erst in Versuchung, das Musical so nah ranholen zu wollen. Einiges bei der "West Side Story" genießt quasi Bestandsschutz: New York muss New York bleiben. Und doch haben Celis und sein Bühnenteam einen überzeugenden Weg gefunden, das Exemplarische durch eine gewisse Ort- und Zeitlosigkeit zu forcieren. Die Hoffnungshymne "Somewhere" (von Elizabeth Wiles wunderbar innig gesungen) entrückt Celis gar der eigentlichen Story. Projektionen (Video: Philipp Contag-Lada) von Meereswogen, in denen Bootstrümmer treiben, bringen einen schnell zu den Flüchtlingsmeldungen der Tagesschau, ohne dass Celis' Regie ins Polittheater abglitte.

Seine Inszenierung bewahrt (gedankliche) Freiräume. Wenige Gerüststangen müssen reichen, um an New Yorker Feuerleitern denken zu lassen. Dazu ein paar Ziegelmauern (Bühne: Jan Messerli). Andeutungen zumeist. Vielleicht hätte Celis dem Publikum insgesamt einen Hauch mehr Kulisse gönnen sollen - als optischen Kitt zwischen einzelnen, manchmal etwas unverbundenen Songs. Umso mehr prunkt der Chef der Saarbrücker Ballettkompanie aber mit seiner Kernkompetenz, dem Tanz. Dass Jerome Robbins Originalchoreographien bis heute Maßstäbe setzen, weiß Celis natürlich. So verneigt er sich mit seinen Tanzszenen tief vor Robbins. Ohne dass er sich aber gleichsam museal mit einer Kopie begnügt. Treffen "Sharks" und "Jets" aufeinander, ob auf der Straße oder im Tanzlokal, wirken die Tänzer wie Panther geschmeidig und jederzeit bereit zum tödlichen Sprung. Ein packend arrangierter Tanz von Kraft um eine Mitte, in der wild eine unfassbare Wut steht.

Dagegen setzt Celis die intimen Szenen zwischen Tony und Maria aber auch zwischen Anita und Bernardo (ein schön pomadiger Latino: Markus Krenek) als mit feinem Pinsel gemalte Miniaturen, meidet so falsche Rührseligkeit. Wahrhaftigkeit ist denn auch das Stichwort, das Herdís Anna Jónasdóttir ihrer Maria mitgibt: Nach echtem Gefühl klingt ihr agiler Sopran, wenn sie Tony in die Arme tanzt (auch das macht sie klasse). Michael Pflumm ist für Marias Herzensmann eine Top-Verpflichtung - so stimmgewaltig, aber auch sensibel, wie er singt. Erfrischend handfest und doch sinnlich ist Judith Brauns Anita eine Latina mit großem Herz auf sexy Taille. Sie übrigens steht auch dafür, dass gleichwohl das Theater für diese Produktion einige Top-Musicaldarsteller einkaufen musste - auch Dennis Weißert (Riff) gehört da noch dazu - man doch aus den eigenen Reihen einige Rollen exzellent besetzen konnte. Wohl einem Haus, das auch sowas kann.

 Das Paar des Abends: Herdís Anna Jónasdóttir als Maria und Michael Pflumm als Tony.

Das Paar des Abends: Herdís Anna Jónasdóttir als Maria und Michael Pflumm als Tony.

Weitere Vorstellungen: 8., 21., 23., 25. und 30. Oktober. Karten unter Tel. (06 81) 3 09 24 86.

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