Eine Novelle für den Sommer Durchatmen, bis die Korsettstangen knarren

Saarbrücken · Ralf Günther erzählt in seiner Sommernovelle „Die Badende von Moritzburg“ von der Selbstbefreiung einer jungen Dame.

Jedes Mal, wenn sie einen Heiratsantrag bekommt, sinkt Clara in Ohnmacht. Seit sechs Wochen weilt sie im Lachmannschen Sanatorium in Dresden, nimmt blutverdünnende Luftbäder, um sich zu kurieren. Der junge Assistenzarzt Maximilian Brandstetter, einer der ersten Anhänger Sigmund Freuds, ist davon überzeugt, dass keine körperliche Ursache hinter ihrem Leiden steckt, sondern eine seelische. Also rät er dem Fräulein zu einem Wochenende an den Moritzburger Teichen. Er selbst komme mit, um sie zu therapieren. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Am Reiseziel angekommen, fühlt sie sich so frei wie nie. „Clara machte sich einen Spaß daraus, so tief und weit zu atmen, dass die Stangen ihres Korsetts knarrten.“ Die Koffer stellt sie in der Pension ab und macht sich ohne auf den Doktor zu warten auf in die freie Natur. Fast verirrt sie sich im Schilf an den Moritzburger Teichen. Dann aber hört sie Stimmen und sieht Nackte plantschen. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Maler der Künstlervereinigung die Brücke. Am Anfang ist Clara noch schüchtern. „Welche Kunst erfordert Nacktheit?“, fragt sie, und kriegt von Ernst Ludwig Kirchner als Antwort: „Wir befreien uns von Zwängen. Nur so lernt man sich wirklich kennen. Sonst bleibt alles doch nur Konvention und Alltag, Liebchen.“ Bald aber lässt auch sie die Hüllen fallen und verbringt sogar die Nacht mit Kirchner.

Die Geschichte, die Ralf Günther, 1967 in Köln geboren,  in seiner Sommernovelle „Die Badende von Moritzburg“ erzählt, liest sich, als habe sie sich wirklich Anfang des 20. Jahrhunderts ereignet, so authentisch gelingt es dem Autor, den Sprachduktus von damals aufzunehmen. Mit wenigen Pinselstrichen lässt Ralf Günther das Reich der Expressionisten und der Lebensreformer entstehen.

Vom fortschrittlichen Doktor einmal auf den Weg der Befreiung gebracht, gibt sich Clara damit bald nicht mehr zufrieden und will mehr. Da kommen ihr die Brücke-Maler gerade recht. Kaum zurück im Sanatorium, hört Clara, dass ihr Vater von dem ungehörigen Ausflug Wind bekommen hat. Im Glauben, der Herr Doktor habe der Tochter die Unschuld geraubt, wütet der alte Herr und ist nicht mehr zu bremsen. Erst als Brandstetter ihn fragt, ob die Ehre seiner Tochter gerettet sei, wenn er sie heiraten würde, beruhigt sich der Vater. Aber ist damit der jungen Clara gedient? 

Ralf Günther: Die Badende von Moritzburg. Kindler, 112 Seiten, 15 Euro.

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