Literatur Die Wahrheit der Maulwurf-Labyrinthe

Saarbrücken · Gegenwärtige Vergangenheit: Der furiose Roman „Underground Railroad“ des amerikanischen Autors Colson Whitehead.

 Die rassistischen Ausschreitungen in Charlottesville (USA), in deren Verlauf kürzlich ein Neonazi eine 32-Jährige tötete, erinnern Colson Whitehead an die dortige Lynchjustiz gegen Afroamerikaner im 19. Jhr. – sein neuer, die Sklavengeschichte der USA thematisierender Roman legt viele Spuren in die Gegenwart aus.

Die rassistischen Ausschreitungen in Charlottesville (USA), in deren Verlauf kürzlich ein Neonazi eine 32-Jährige tötete, erinnern Colson Whitehead an die dortige Lynchjustiz gegen Afroamerikaner im 19. Jhr. – sein neuer, die Sklavengeschichte der USA thematisierender Roman legt viele Spuren in die Gegenwart aus.

Foto: dpa/Rolf Vennenbernd

„Das Sonderbare an Amerika war“, erkennt die junge Afrikanerin Ajarry rasch, „dass Menschen Dinge waren“. Im Hafen von Ouidah, einem Zentrum des Sklavenhandels, wird sie auf ein Schiff verladen. Ajarry landet in Georgia auf der Plantage der wenig zimperlichen Familie Randall. Sie bringt in der Unfreiheit mehrere Kinder zur Welt. Mabel ist das einzige, das sein zehntes Lebensjahr erreicht. Mabel wiederum schenkt Cora das Leben – und was das für ein Leben ist, davon erzählen die ersten Seiten von Colson Whiteheads neuem Roman „Underground Railroad“: Folter und Vergewaltigungen sind hier an der Tagesordnung. Ein System der Angst und Erniedrigung: Kein Sklave soll sich ermutigt fühlen, sein Heil im Norden zu suchen, wo zwar nicht das Paradies lockt, aber zumindest der Sklavenbesitz irgendwann verboten wurde.

Es ist quälend, was Whitehead mit größtmöglicher Genauigkeit schildert; verbürgt ist es durch die Berichte ehemaliger Sklaven, die in den 1930er Jahren dank des Federal Writers‘ Project gesammelt wurden. In diesen Dokumenten ist das blutige Erbe bewahrt, auf dem Amerika gründet und mit dem es bis heute keinen Frieden gemacht hat.

„Underground Railroad“ erzählt von der Vergangenheit so, dass der Roman die Gegenwart erhellt und zugleich die schier unbegrenzten Möglichkeiten der Romanform ausreizt. Nicht zu Unrecht wurde das Buch im letzten Jahr gleich mit den zwei der bedeutendsten Literaturpreisen in den USA ausgezeichnet: dem National Book Award und dem Pulitzer Preis. Nun ist „Underground Railroad“ in der Übersetzung von Nikolaus Stingl auf Deutsch zu entdecken. Das Buch ist ein Ereignis. Seinem 1969 in New York geborenen Autor Colson Whitehead nämlich gelingt es nicht nur, uns mit mutigen, zwielichtigen, heroischen, widersprüchlichen, grausamen Figuren bekannt zu machen, die man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Er schafft es zudem, seine Heldin Cora niemals als Opfer zu zeichnen. Und eine Geschichte mit allen Mitteln der Erzählkunst und in weiten Spannungsbögen vor uns zu entfalten: Leichthändig überschreitet er den Realismus, der die ersten Seiten bestimmt, hin zum Phantastischen.

Cora ist noch keine zehn, als ihre Mutter die Flucht wagt und das Mädchen alleine zurücklässt. Ein paar Jahre und viele Demütigungen später wird sich auch Cora zusammen mit dem Sklaven Caesar in einer dunklen Nacht auf und davon machen. Die Jäger, insbesondere der von Whitehead mit sadistischen Zügen ausgestattete Racheengel Ridgeway, sind ihnen auf der Spur. Ihre vorläufige Rettung finden sie einige Meter unter der Erdoberfläche: Dank der „Underground Railroad“ schaffen sie ihre nächste Etappe. Freie Afroamerikaner, ehemalige Sklaven, weiße Abolitionisten betreiben ein unterirdisches Eisenbahnsystem. Durch gut getarnte Falltüren in abgelegenen Farmhäusern gelangt man zu den Haltestellen – keiner weiß Genaues über die Streckenführung, streng geheim sind die Fahrpläne und Ziele der Züge, die sich in Maulwurfslabyrinthen durch die verschiedenen Landschaften und Staaten der USA schlängeln.

Die „Underground Railroad“ gab es wirklich, wenn auch nur als Metapher. Der Begriff umfasste seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Geheimgesellschaft mutiger Männer und Frauen, die auf verschiedenste Weise dabei halfen, Sklaven aus ihrem Elend in sichere Gegenden zu schleusen. Whitehead nimmt das Bild wörtlich. Er fügt der wahren Geschichte eine literarische Wahrheit hinzu, verbindet in seinem Buch auf bestechende Weise Toni Morrison und Thomas Pynchon, Geschichtsschreibung und Phantastik, Realitätsverdichtung und Wirklichkeitsdehnung. Cora erfährt auf ihrer verwegenen Flucht das ungeahnte Ausmaß des Schreckens ebenso wie sie utopische Lichtblicke erhascht. Durch seine Erzähltechnik, die sich weder den Gesetzen der Linearität noch denen des Naturalismus unterwirft, kann Whitehead Motive und Elemente zusammenfügen, die zeitlich und räumlich weit auseinanderliegen. Es ist ein Martyrium, das seine Heldin durchlebt, und selbst am Ende weiß man nicht, ob Coras Flucht tatsächlich von Erfolg gekrönt ist und die Freiheit winkt. Der Emanzipationskampf der afroamerikanischen Bevölkerung, will uns das sagen, ist bis heute nicht abgeschlossen.

Colson Whiteheads Leseabenteuer „Underground Railroad“ ist ein Zeugnis der Wut und der Trauer, aber auch der Güte und des Wagemuts, vorgetragen in der alle Freiheiten ermöglichenden Sprache der Literatur – der auf lange Sicht vielleicht doch wirkmächtigsten Waffe, gegen die auch Gewehre, Hasspredigten und amerikanische Präsidenten nichts ausrichten können.

Colson Whitehead: Underground Railroad. Aus dem Englischen von
Nikolaus Stingl. Hanser. 352 S. 24 €.

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