Die Tiefgründigkeiten des Herrn Wiesengrund

Saarbrücken · Gisela von Wysocki macht Adorno zur Romanfigur, morgen liest sie hier.

 Studierte in den 60ern bei Adorno: Autorin Wysocki (76). Archivbild: Barry Lynch/Suhrkamp

Studierte in den 60ern bei Adorno: Autorin Wysocki (76). Archivbild: Barry Lynch/Suhrkamp

Wiesengrund, den jüdischen Namen seines Vaters, hat Theodor W. Adorno später zum Initial heruntergedimmt und stattdessen den Familiennamen der von ihm geliebten Mutter angenommen. Wenn Gisela von Wysocki ihren Adorno-Roman "Wiesengrund" nennt, so mag man dies als Hinweis dafür nehmen, dass darin biografisch Ausgeblendetes über T.W.A. ausgeschrieben wird. Also ans Licht kommt. In den 60ern studierte die Autorin in Frankfurt bei Adorno am Institut für Sozialforschung - der Geburtsstätte der Kritischen Theorie und der epochalen "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer/Adorno. Betreten wir mit Wysocki aber Adorno-Neuland? Eher nicht.

Inwieweit sie selbst hinter ihrer Hauptfigur Hanna Werbezirk steckt, die sich von Salzburg aus nach Frankfurt aufmacht, um den dort lehrenden Philosophen näher kennenzulernen, den sie nur aus fabulösen Hörfunk-Nachtsendungen kennt, bleibt unklar. An Ähnlichkeiten dürfte jedenfalls kein Mangel sein. Als Schülerin war Hanna, spät heimlich unter der Bettdecke Radio hörend, Wiesengrund verfallen - ohne ihn verstanden zu haben. So gut aber dann doch, um zu erkennen, dass dieser in seinen Hörfunk-Essays ein Haus namens Europa besichtigte, "in dem kaum noch ein Stück gebrauchsfähig ist". Und die Ich-Verlorenheit umso größer. Weil es, wie Adorno in seinem beneidenswert klugen Frühwerk "Minima Moralia" ebenso apodiktisch wie unnachgiebig geschrieben hatte, "kein richtiges Leben im falschen gibt". Nach Auschwitz schon gar nicht.

Hanna also schreibt sich in Frankfurt in Soziologie ein, um dort "sozusagen eine Zweigstelle meiner Existenz" zu eröffnen. Adorno ist ihr Idol. Auch wenn sie nicht recht erklären könnte, was er in ihrem Inneren anklingen lässt. Die Gewissheit reicht, dass alles wesentlich ist, was dieses Genie gedanklich aus- und entwirft und dabei mit seinem Ideenhochdruck "die Wahrheit ausdauernd durch Himmel und Hölle" schickt.

Genau darin liegt die Schwäche dieses sprachlich eher blutarmen Romans begründet: Wysockis Hauptfigur hievt Adorno auf ein Podest und blickt die meiste Zeit über andächtig zu ihm empor. 260 Seiten lang zelebriert Wysocki ein Beziehungsgefälle und quält mitunter mit einem Übermaß an Bewunderungsprosa. Wobei die Heiligenverehrung wenigstens zeitweise ironisch gebrochen wird. Etwa wenn die Ich-Erzählerin - wissbegierig und subtil ist sie, dabei aber verstockt und allzu passiv - den untersetzten, fast kleinwüchsigen Herrn beschreibt, der seinen Hut wie einen Schild vor der Brust trägt, wenn er mit der Studentenschar im Fahrstuhl steht. Oder dieser Hanna privatissimo in eine Zoohandlung (!) einlädt, zwecks Inaugenscheinnahme der Reptilien. Oder Wysocki die Ergriffenheit der im Hörsaal an des Meisters Lippen Hängenden einfängt. Passagen, in denen Möglichkeiten eines gekonnten Bildungsromans aufflackern, der spiegelt, wie sehr es auch unter angehenden Intellektuellen so etwas wie einen Star-Kult gab und gibt. "Zu lange habe ich meinem Gegenüber (.

. .) zugemutet, in einer luftdichten Verpackung ohne Verbindung zum Rest der Welt in Gedankengebäude und Luftschlösser eingebettet zu sein", resümiert Hanna. So braucht es denn auch eine Weile, bis auch dem großen Theodor Wiesengrund Adorno schlicht und schnöde Menschlichkeit zuteil werden darf. Und dieser Bildungs- auch ein (geistiger) Liebesroman "ohne Hand und Haut" werden kann.

Als Kontrapunkt zu den Adorno-Kapiteln setzt Wysocki Passagen, die das überall noch die Spuren des Kriegs tragende Frankfurt der frühen 60er Jahre einfangen: Das Leben steckt dort auf halbem Weg zwischen bürgerlicher Restauration und studentischem Aufbruch fest. Ob Wysocki nun die diversen Charaktere des Mietshauses beschreibt, in dem Hanna einquartiert ist, oder die den Muff von tausend Jahren abschütteln wollenden, eskalationswilligen Studenten an ihrer Seite. Das plastische Zeitbild, das sie dabei nebenbei entwirft, wird zum eigentlichen Kapital ihres Romans.

Leider bleibt Gisela von Wysockis alleinige Referenzfigur Hanna ungeachtet ihrer durchaus feinen Beobachtungsgabe charakterlich zu schlicht, zu verhalten, um das perspektivische Spektrum dieses Romans weiter aufreißen zu können. So leidet dieser Roman über einen genialen Denker darunter, dass diejenige, die durch ihn hindurch führt, in Ehrfurcht erstarrt.

Gisela von Wysocki: Wiesengrund. Suhrkamp, 264 Seiten, 22 €. Lesung morgen (20 Uhr) in der Reihe Böll & Hofstätter im Saarbrücker Filmhaus.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort