"Die Stadt der verlorenen Kinder" Bilderrausch in einer anderen Welt

Saarbrücken · Einer der wildesten Filme der 1990er erscheint als vorbildliche Heimkino-Edition: „Die Stadt der verlorenen Kinder“.

 Miette (Judith Vittet) und One (Ron Perlman) in höchster Bedrängnis.

Miette (Judith Vittet) und One (Ron Perlman) in höchster Bedrängnis.

Foto: Turbine Medien

Streaming gut und schön: Es ist praktisch, flott zu handhaben (man muss nicht vom Sofa aufstehen, um eine DVD einzulegen) und, per Film gerechnet, günstig. Doch fehlt da manchmal nicht etwas, wenn man sich wirklich in einen Film versenken und ihn nicht einfach wegglotzen will? Etwa begleitende Audiokommentare der Filmschaffenden, Drehberichte, Interviews? Zugegeben: Auch da gibt es manchen Murks, wenn einige Filmfirmen ihre DVDs nur mit den Schulterklopf-Werbe-Interviews vom Kinostart bestücken, à la „der Regisseur ist der netteste Mensch, dem ich je begegnen durfte“.

Aber wirklich aufwändige Editionen sind ein Stück Liebe zum Film und eine Perle im Wohnzimmerregal. Ein solches Schmuckstück ist die neue Edition von einem der wunderlichsten Filme der 1990er Jahre: „Die Stadt der verlorenen Kinder“ von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro. Das gallische Duo hatte 1991 mit „Delicatessen“ ein wahnwitziges Langfilmdebüt vorgelegt, eine schwarzhumorige Kannibalismusgeschichte in einem französischen Mietshaus. Der Erfolg war groß, auch in Deutschland – 800 000 Leute sahen sich den hierzulande Film an.

Das exzentrische Duo ging beim Folgefilm thematisch und optisch in die Vollen, hatte es doch nun das Budget, das es brauchte: „Die Stadt…“ führt uns in ein surreales Paralleluniversum irgendwo zwischen Jules Verne und Steampunk, in ein düsteres Hafenviertel und auf eine stählerne Insel, erzählt von einem glatzköpfigen Finsterling, der selbst nicht träumen kann und deshalb Kinder entführt, deren Träume er ihnen stehlen will; und auch eine bizarre Sekte mischt mit in diesem dunklen Märchen. Das kriminelle Treiben des bösen traumlosen Wissenschaftlers geht so lange gut, bis er einen Jungen verschleppt, dessen Bruder ein vielleicht schlicht gestrickter, aber sehr muskulöser Mann ist, der kraft seiner Brustmuskeln stählerne Ketten zu sprengen vermag: One, gespielt vom Amerikaner Ron Perlman. Der Film ist eine Orgie der bizarren Kulissen, der merkwürdigen Charaktere und ungewöhnlichen Kameraperspektiven. Man muss sich in diese Welt erst einmal hineinfinden – aber dann wird man mitgerissen.

 Daniel Emilfork als böser Wissenschaftler mit dem vielsagenden Namen Krank.

Daniel Emilfork als böser Wissenschaftler mit dem vielsagenden Namen Krank.

Foto: Turbine Medien

Wie das Ganze entstanden ist, erfährt man zum einen durch den guten Begleittext des Filmjournalisten Christoph Kellerbach in der Bluray-Edition, die wie ein Buch gestaltet ist. Zum anderen ist das Bonus-Material sehr gut: Da zeigt eine halbstündige Reportage den Bau der wahnwitzigen Kulissen in einer riesigen Halle, es gibt ein damaliges Interview mit Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier, der die Kostüme gestaltet hat, und einen Bericht über die Arbeit mit den ganz jungen Darstellern – die zum Teil noch keine zehn Jahre alt waren. Herzstück dieser Edition ist allerdings ein Interview, das Christian Bartsch von der Heimkino-Firma Turbine extra dafür im Februar 2021 mit Ron Perlman geführt hat. Der mag heute durch „Hellboy“ und „Sons of Anarchy“ bekannt sein, war damals aber eher ein kleineres Licht. Was seine Agenten nicht daran hinderte, wie Perlman jetzt erzählt, das Duo Jeunet und Caro rüde abzuweisen, als sie ihn für ihren Film verpflichten wollten. Das Argument der Agenten damals: „Wir kannten sie nicht – und sie waren Franzosen.“ Das Duo nahm direkt Kontakt zu Perlman auf, und der war entzückt, war er doch ein Fan des europäischen Kinos und von „Delicatessen“. Er reiste für ein halbes Jahr nach Paris, bei den Dreharbeiten war er der Einzige, der kein Französischs sprach, das Regie-Duo sprach kein Wort Englisch. Man brauchte Hände, Füße und einen Dolmetscher. Es ist ein gutes Interview mit Perlman, der einen recht finsteren (oder realistischen) Blick auf den Schauspielerberuf hat. Das Vorsprechen für Rollen vergleicht er mit dem Besteigen eines Berges, der aus den Leibern von 500 seiner Kollegen besteht. In der Originalversion des Films gibt es übrigens eine Wiederbegegnung mit dem kürzlich verstorben Jean-Louis Trintigant – in der französischen Fassung spricht er die Rolle von Irvin, einem Gehirn, das in einem Glasbecken lebt. In diesem Film ist eben vieles möglich.

"Die Stadt der verlorenen Kinder" als famose Heimkino-Edition
Foto: Turbine

Erschienen bei
Turbine Medien.

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