50 Jahre nach der 68er-Bewegung Die Licht- und Schattenseiten der 68er

Saarbrücken · Wolfgang Kraushaar leuchtet kundig die „blinden Flecken der 68er-Bewegung“ aus – am Montag stellt er sein Buch in Saarbrücken vor.

 Am 24. Mai 1968 wollte Daniel Cohn Bendit (Dritter von rechts, daneben Autor Gaston Salvatore und Liedermacher Franz Josef Degenhardt) an der Goldenen Bremm seine Rückkehr nach Frankreich durchsetzen – vergebens. Paris hatte ein Aufenthaltsverbot gegen „Dany Le Rouge“ erlassen.

Am 24. Mai 1968 wollte Daniel Cohn Bendit (Dritter von rechts, daneben Autor Gaston Salvatore und Liedermacher Franz Josef Degenhardt) an der Goldenen Bremm seine Rückkehr nach Frankreich durchsetzen – vergebens. Paris hatte ein Aufenthaltsverbot gegen „Dany Le Rouge“ erlassen.

Foto: Landesarchiv des Saarlandes/Landesarchiv des Saarlandes/Julius C. Schmidt

War ihr Mythos größer als die tatsächliche Wirkung der 68er? Die Frage wird bis heute kontrovers diskutiert. Sexuelle Befreiung und Sozialismus waren für sie  quasi eins – ganz im Sinne des Sexualforschers Wilhelm Reich, von dessen Werken damals mehr Raubdrucke kursierten als von jedem anderen Theoretiker. Und haben die 68er nicht Reform-Unis und Kinderläden, die WG-Kultur und betriebliche Mitbestimmung durchgesetzt? Enttarnten sie nicht viele Alt-Nazis und die betäubende Bewusstseinsindustrie von Springer & Co? Und politisierten sie Gesellschaft nicht kolossal? Andererseits: Der SDS, Keimzelle der 68er, umfasste bundesweit nur 2000 Studenten. Und die größe Demo der Ära, der „Sternmarsch auf Bonn“ am 11. Mai 1968, mobilisierte gerade mal 60 000 Leute. Und war der 68er-Spuk dann nicht schon Ende ’69 vorbei?

 Wenn es so etwas wie den Chronisten der 68er-Bewegung gibt –  die eigentlich 67er-Bewegung heißen müsste, da ihr Auslöser die Tötung des Studenten Benno Ohne­sorg am 2. Juni 1967 während der Berliner Anti-Schah-Demo war – , dann heißt er wohl Wolfgang Kraushaar. Seit Jahrzehnten erforscht er die 68er-Ära und den aus ihr hervorgegangenen Linksterrorismus der RAF. Zum 50-jährigen Jubiläum der Protestbewegung hat der 68-Jährige nicht nur eine vierbändige illustrierte Chronik (2000 Seiten bei Klett-Cotta) verfasst, sondern noch zwei weitere Abhandlungen: Für Reclam dampft er die Studentenrevolte kompakt auf 100 Seiten ein. Ungleich vielschichtiger widmet sich Kraushaar, der mehr als 30 Jahre am Hamburger Institut für Sozial­forschung wirkte, in seiner Aufsatzsammlung „Die blinden Flecken der 68er Bewegung“ deren Entstehung, Verlauf und Folgen.

Eine Spur darin führt auch nach Saarbrücken: Im März 1968 plante man dort offenbar, einen Sendemast des American Forces Network (AFN) zu sprengen. Die Bombe sollen Bahman Nirumand, Mitbegründer der Konföderation iranischer Studenten, und Rudi Dutschke per Flugzeug von West-Berlin nach Frankfurt geschmuggelt haben. In Saarbrücken habe, schreibt Kraushaar, der dort damals lebende Jurist und Liedermacher Franz Josef Degenhardt („Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“) sie in Empfang genommen. Der Anschlag sei aber abgeblasen worden.

Wenn Kraushaar titelgebend von „blinden Flecken“ spricht, so suggeriert dies, dass seine jüngste Abhandlung gebliebene Leerstellen in der Aufarbeitung der 68er-Ära womöglich zu füllen und schließen weiß. Umso mehr, als er seine gebündelten Aufsätze selbst als „historiographische Sonden“ bezeichnet, „mit denen es möglich ist, in bislang verborgene Tiefendimensionen der damaligen Bewegung vorzustoßen“.

Eines der interessantesten Kapitel ist gleich das erste, in dem er die 68er und deren außerparlamentarische Opposition als „romantische Revolte“ im Sinne von Rousseaus kulturpessimistischem „Zurück zur Natur“ deutet. Dass die Romantiker und maßgeblich Rousseau „das insgeheime Vorbild für die Kinderladenbewegung, die Kritik der bürgerlichen Erziehung und der aus ihr resultierenden Anti-Pädagogik“ gewesen sei, bleibt eine steile, vor zehn Jahren schon von Rüdiger Safranski ins Feld geführte These, die nicht trennscharf hergeleitet wird. Kraushaar zitiert zwar Daniel Cohn-Bendit („Das Menschenbild der Linken war sehr von Rousseaus Theorie geprägt.“) und rekurriert auf damalige Positionen liberaler Publizisten wie der „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, die die 68er als Wiedergänger der politischen Romantiker deutete – der Jenaer Burschenschaftler von 1817. Umso plausibler wirkt seine These mit Blick auf das rauschhafte, lustgetränkte, anarchische Gemeinschaftsgefühl des subkulturellen Milieus: die Sponti-, Hasch- und Protestmusik-Szene.

Idealisierungen prägten auch das politische Weltbild der 68er. Ihren Internationalismus, in dessen Gefolge Che Guevara, Mao und Ho Chi-Minh zu Pop-Helden avancierten, resümiert Kraushaar wie folgt: „Die Dritte Welt war eine ,Projektionsbühne’ für romantisch aufgeladene Bilder eines internationalen Befreiungskampfes. Die fernen Guerilleros dienten der 68er-Bewegung als Ersatz für ihre im eigenen Land mehr oder minder gegenstandslosen revolutionären Hoffnungen.“ Als Resümee ist das nicht neu. Umso interessanter ist dafür seine These, dass die „anti-nationalistische Aufladung“ der 68er im Zeichen ihres Internationalismus ihr „Interesse an der Überwindung der deutschen Teilung weitestgehend zu blockieren“ wusste.

Ausführlich zeichnet er nicht nur den Verlauf des Schah-Besuchs nach (und die Verstrickungen des iranischen Geheimdienstes in die Proteste), sondern auch die aufgeheizte Stimmung zur Zeit der Notstandsgesetze nach, die zu verhindern zu einer „Art Generaltest für die Politikfähigkeit der APO“ ausgerufen wurde: Kraushaar verdeutlicht, dass das Scheitern der APO nur ein relatives war: Zwar misslang der Schulterschluss mit den Gewerkschaften, so dass keine Massenbewegung entstand. Jedoch hätten die Proteste zur Abschwächung der Notstandsgesetze geführt. Ein Teilerfolg, der für die Protestbewegung nichts galt. „Ihnen ging es um alles oder nichts.“

Dass die äußerst heterogene, dafür in ihrer „Antistaatlichkeit“ vereinte 68er-Bewegung, die letztlich ja nur von Sommer 1967 bis Herbst 1969 reichte, zu ihrem Verständnis maßgeblich dreier Negativfolien bedarf – 1) die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit, 2) die als restaurativ gebrandmarkte Große Koalition in der BRD sowie 3) der gegeißelte US-Imperialismus in Vietnam – ist einer der roten Fäden des  Buchs. Aber kommen wir zu den „blinden Flecken“: Dazu gehört die bis heute übersehene Bedeutung  des jungen Berliner Politikwissenschaftlers Johannes Agnoli für die APO. 1967 erschien sein wegweisender Traktat „Die Transformation der Demokratie“, der zu einer Art „Bibel der außerparlamentarischen Opposition“ (Rudolf Walther) avancierte. Agnoli sah im Klassenkampf die einzige Antwort auf den einschläfernden Parlamentarismus, der letztlich Demokratie nur simuliere. Einen anderen „blinden Fleck“ macht Kraushaar hinsichtlich der Antisemitismus-Positionen der 68er aus.

Dass die linke Protestbewegung die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit geleistet habe, gehört zu den elementaren Topoi der 68er. Wie Kraushaar an der Haltung der Neuen Linken zur Annexionspolitik Israels im Zuge des Sechstagekriegs 1967 verdeutlicht, vollzogen Teile der 68er damals eine „Kehrtwendung um 180 Grad“ und entwickelten einen Antisemitismus linker Couleur. Ob dies auch darin begründet war, dass für Rudi Dutschke – die Galionsfigur der Linken schlechthin – Auschwitz ein ausgeblendetes „regelrechtes Tabu“ war oder die Israel-Kritik eher in einer von Kraushaar an anderer Stelle gegebenen tiefenpsychologischen Deutung eine Art „Abwälzen eigener Schuldgefühle“ der Nachgeborenen war, sei dahingestellt. Jedenfalls zitiert er aus einem Brief Adornos an Marcuse, in dem Ersterer 1968 vor der „Gefahr des Umschlags der Studentenbewegung in Faschismus“ warnte. Kraushaar resümiert, die 68er hätten statt einer Aufarbeitung der NS-Zeit eher die Kontinuität der Funktionseliten in NS- und BRD-Zeit im Blick gehabt. Kein Satz habe sie „mehr in die Irre geführt“ als das von ihnen missverstandene Horkheimer-Diktum „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“.

Weil die 68er-Zeit hinsichtlich der Stoßrichtung ihres Protests (wie auch mit Blick auf ihr Gewaltpotenzial und das Abdriften aus einem Stadt-Guerilla-Gebaren in die Militanz der Rote Armee Fraktion) dank zahlloser Publikationen heute dann doch im Wesentlichen aufgearbeitet ist, widmet sich Kraushaar zur Aufhellung weiterer unterbelichteter Aspekte aufschlussreichen Einzelheiten. Sei es der Rolle, die der von ihm als „Libero der 68er-Bewegung“ titulierte Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger dabei spielte (und wie der diese später umdichtete) oder der subversive Part von Kunstströmungen wie dem Situationismus der Gruppe „Spur“ (mit ihrem paradoxen Motto „Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern“). Offengelegt wird auch die überragende Bedeutung von Walter Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ für die antiautoritäre Bewegung – gerade diese ausgeleuchteten Randphänomene machen den Reiz von Kraushaars Tiefenbohrung aus.

Gleiches gilt für seine essayistische Aufarbeitung des wesentlich auf Dieter Kunzelmann zurückgehenden Kommunen-Konzepts, das die Abschaffung der bürgerlichen Kleinfamilie propagierte. „Was dann als antiautoritäre Erziehung, Kritische Universität, Freie Schule usw. folgte, das strahlte von dieser Idee einer psychosozialen Umwälzung des elementarsten Lebenszusammenhanges aus.“ Wobei es, wie Kraushaar nicht zu vergessen erwähnt, zu den Ironien der 68er gehört, dass von ihr zuletzt „vor allem Ästhetisches übrig geblieben zu sein scheint“: ob Popmusik, Design, Plakatkunst oder Graffiti. Aber eben nicht nur das: Sind doch die Grünen, woran Kraushaar auch erinnert, ein „Spätprodukt der 68er Bewegung“. Nicht alleine, weil Dutschke und Cohn-Bendit in ihren Gründungsprozess involviert waren.

Wolfgang Kraushaar: Die blinden Flecken der 68er-Bewegung. Klett-Cotta. 521 Seiten, 25 €.

 W. Kraushaar.

W. Kraushaar.

Foto: Valeska Achenbach

Am Montag (18 Uhr) stellt Kraushaar sein Buch in einem Vortrag in der Saarbrücker Stiftung Demokratie (Europaallee 18 am Eurobahnhof) vor.

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