Die Feindbildangebote von Populisten

Brexit, Trump, Rechtspopulisten: Verlieren moderne Gesellschaften zusehends ihre Bindungskraft? Und was hat das mit dem kürzlich ausgerufenen postfaktischen Zeitalter zu tun? Der Marburger Politikwissenschaftler Peter Widmann (48), der an der TU Berlin über die Integrationspolitik deutscher Kommunen promoviert hat, hat den Begriff „Identitätspolitik“ dafür ins Spiel gebracht. Im Interview mit SZ-Redakteur Christoph Schreiner erläutert Widmann seine These von einer „Post-Fakten-Politik“.

Ist alles zu komplex geworden? Und wir überfrachtet mit Fakten?

Widmann: Die Welt war immer unendlich komplex. In den letzten Jahren haben sich jedoch durch die technologische Entwicklung die Informationskanäle vervielfältigt. Hinzu kommt, dass es heute offenkundig eine gewisse Neigung gibt, sich die Welt mittels Halb- und Viertelwahrheiten zurechtzulegen.

Wenn es ein postfaktisches Zeitalter gibt, muss es ein faktisches gegeben haben. Gab es das?

Widmann: Der Begriff des Postfaktischen beinhaltet eine Übertreibung: Die Vergangenheit war nicht rationaler als unser Heute. Auch früher wurde in der Politik gelogen. Wenn auch in Diktaturen leichter als in Demokratien. Was man im Englischen einen "ökonomischen Umgang mit der Wahrheit" nennt, meint, die Dinge so darzustellen, dass es einem nützt. Spin-Doktoren tun das in Wahlkämpfen.

Ist das Zuspitzen und Umdeuten von Ereignissen oder das Jonglieren mit Wahrheiten, das in sozialen Netzwerken en vogue zu sein scheint, womöglich auch eine Reaktion auf das, was einem die Politik jahrelang tagein, tagaus als Theater selbst vorgespielt hat?

Widmann: Politik war zu einem gewissen Teil immer Theater. Also das Inszenieren von Personen und Programmen. Der Unterschied ist, dass wir heute unendlich mehr Teilnehmer haben, die an dieser Inszenierung über die sozialen Medien mitwirken können. Da kommt etwas zum Tragen, das mit Selbstwirksamkeit zu tun hat. Leute, die sonst nie erleben, dass es eine Rolle spielt, was sie sagen, haben im Internet dieses Gefühl.

Neu ist auch das Phänomen der "Filterblasen": Die Allgegenwärtigkeit sozialer Netzwerke führt dazu, dass es heute einfacher denn je geworden ist, alles auszufiltern an Informationen, was unerwünscht ist. Man lebt in einem geschlossenen System voller sich selbst erfüllender Prophezeiungen. Wird damit das Lügen gewissermaßen gesellschaftsfähig?

Widmann: Zumindest entwickeln diese Gesellschaftsgruppen jeweils eigene Wirklichkeiten und haben dabei das Gefühl, dass die anderen auf anderen Planeten leben. Das gab es in einem gewissen Maß auch vor dem Internetzeitalter. Wer etwa konservativ war, kaufte damals eine konservative Zeitung. Genauso haben sich die Menschen auch früher auf die Ansichten fokussiert, die ihre eigenen bestätigen. Diese selektive Wahrnehmung gab es zu allen Zeiten. Nur kann man heute viel leichter ausschalten, was einem nicht passt. Und sich leichter mit denen kurzschließen, die dieselbe Meinung haben.

Sie haben die These vertreten, "die Post-Fakten-Politik" repräsentiere die Politik der desintegrierten Gesellschaft. Inwiefern?

Widmann: Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten polarisiert. Vereinfacht gesagt in Gewinner und Verlierer der Globalisierung. Wer gut ausgebildet ist, Fremdsprachen beherrscht und mobil ist, gehört tendenziell zu den Gewinnern. So sind soziale Gräben und völlig unterschiedliche Lebenslagen entstanden, die von Populisten weiter vertieft werden.

Wird dieses Auseinanderdriften nicht auch durch das Fehlen gemeinsamer Werte verursacht?

Widmann: Es gab immer unterschiedliche gesellschaftliche Werthierarchien. Aber wir haben heute viel stärker Individualisierungstendenzen, was die Lage viel unübersichtlicher macht. Man wird auch nicht mehr derart stark in eine bestimmte Wertegruppe hineingeboren wie früher. Leute, die AfD wählen, haben durchaus Werte, ob die uns nun gefallen oder nicht: Nation oder Recht und Ordnung.

Sie selbst haben sich mit der Bedeutung von Gefühlen für die gesellschaftliche Systementwicklung beschäftigt. Gefühle sind ein sozialer Kitt. Verliert eine Gesellschaft jedoch ihren Zusammenhalt, wird das, was Sie Identitätspolitik nennen, zu einer gefährlichen Sache: Man idealisiert die eigene Wir-Gruppe auf Kosten anderer. Was folgt daraus?

Widmann: Der heutige Rechtspopulismus, wie wir ihn in ganz Europa und den USA erleben, ist vor allem Identitätspolitik. Es geht darum, eine Art von "Wir" zu definieren. Das sind Parteien, die die eigene Gruppe in ihrem Status wieder herstellen. Ob nun als Deutsche, Weiße oder Alteingesessene. Das ist die Botschaft, mit der sie stark werden. Natürlich praktizieren alle Parteien diese Form der Identitätspolitik. Nur ist sie dort eher ein Element unter vielen. Bei den Rechtspopulisten steht sie hingegen im Zentrum ihres Politikangebots. Verbunden mit "Feindbildangeboten": die "Gutmenschen", die Eliten, die Alt-68er oder insbesondere die Einwanderer.

Sehen Sie Wege, wie man dieses Sich-Parzellieren der Gesellschaft umkehren kann?

Widmann: Wir müssen ehrlicher damit umgehen, dass die gesellschaftlichen Umwälzungen zunehmend Gewinner und Verlierer produziert haben. Darauf müsste man mit einer inklusiveren Politik reagieren. Wir haben in der Vergangenheit zu sehr im Zeichen des Neoliberalismus Fragen der Wettbewerbsfähigkeit betont. Und dabei vernachlässigt, was eigentlich eine Gesellschaft zusammenhält.

Erziehung zur Mündigkeit, zur Selbstbestimmung könnte ein Weg sein. Doch überfordert man dabei leicht die in die Schraubstöcke ihrer Curricula eingespannten Schulen. Da wären vor allem Elternhäuser gefragt, oder?

Widmann: Ja, Medienbildung ist dabei ein ganz wichtiges Thema. Also die Frage, wie ich als Konsument von Informationen diese sinnvoll zu beurteilen lerne.

Um noch mal auf das Postfaktische zurückzukommen: Fakten werden gemeinhin mit Wahrheiten gleichgesetzt. Aber müssen Fakten nicht immer erst interpretiert werden oder in einen Kontext gerückt werden, um wirkliche Aussagekraft zu gewinnen?

Widmann: Wir dürfen nicht vergessen, dass diejenigen, die vom Postfaktischen sprechen, suggerieren, sie selbst hielten sich nur an die Fakten. Dabei scheint etwa das journalistische oder bürgerliche Milieu, das nun gerne vom Postfaktischen spricht, sich selbst entfernt zu haben von der sozialen Wirklichkeit. Das hat sich beim Brexit gezeigt und bei der Wahl Donald Trumps: Kaum einer hat die Abstimmungsergebnisse vorhergesehen.

Trump hat eine Sprache für die gefunden, die sich nicht mehr repräsentiert sehen. Offenkundig hat er ihren Überdruss zu kanalisieren gewusst. Was lässt sich daraus für Deutschland ableiten?

Widmann: Ich fürchte, dass uns das Thema Rechtspopulismus auf Dauer beschäftigen wird. Das ist mehr als ein kurzfristiges Krisenphänomen. Wobei man sehen muss, dass die Stärke der Populisten immer die Schwäche der Etablierten ist. Populisten leben davon, dass sie wie große Neuerer erscheinen. Wieso ihnen dies gelingt, wäre einmal genauer zu untersuchen.

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