Die erschreckende Flut an Krimis

Donna Leon, 1942 in New Jersey geboren, gehört zu den erfolgreichsten Krimi-Autorinnen. Seit mittlerweile 25 Jahren lässt sie ihren Commissario Brunetti in Venedig ermitteln. Eine Übersetzung ihrer Geschichten ins Italienische lehnt sie allerdings ab. Im Interview mit SZ-Mitarbeiter Kaspar Heinrich spricht Leon über die Krimi-Flut, ästhetische Verbrechen, ihr Verhältnis zu Brunetti – und warum sie Venedig nur noch kurze Besuche abstattet.

 „Ich habe nie einen Fernseher besessen, nicht mal in einem Haus mit Fernseher gelebt. Ich lese kaum Kriminalliteratur“: Brunetti-Erfinderin Donna Leon, die inzwischen in der Schweiz lebt.

„Ich habe nie einen Fernseher besessen, nicht mal in einem Haus mit Fernseher gelebt. Ich lese kaum Kriminalliteratur“: Brunetti-Erfinderin Donna Leon, die inzwischen in der Schweiz lebt.

Foto: dpa

Signora Leon, Sie lassen ihren Commissario Brunetti nicht nur in Venedig ermitteln, sondern üben in den Büchern auch Kritik am Massentourismus und der Gentrifizierung. Wie gerne leben Sie heute noch in Venedig?

Leon: Um die Wahrheit zu sagen: Ich lebe dort nicht mehr. Zweimal im Monat fahre ich hin, höchstens für zehn Tage. Zwischen Juni und September kann ich nicht in Venedig leben, denn das ist die Zeit des größten Touristenstroms. Wenn ich dann durch diese Gnuwanderung hindurch muss - das tut mir nicht gut, es frustriert mich. Ich gehe dann in die Schweiz, wo ich ein Haus in den Bergen habe.

Sie klingen enttäuscht.

Leon: Lange Zeit war Venedig ein wunderschöner Ort. Aber inzwischen sind große Teile der Stadt nicht mehr nur nicht schön, sondern ziemlich hässlich. All diese billigen bancarelle, die chinesische Figürchen und Schrott aus Glas verkaufen. Es gibt hunderte von ihnen. Auf dem Weg zur Rialtobrücke stehen portable Stände, alle verkaufen hässliche Dinge, das ist ein ästhetisches Verbrechen.

Ist es denkbar, dass auch Commissario Brunetti irgendwann mit Venedig bricht?

Leon: Ganz sicher nicht. Seine Eltern sind in Venedig begraben, seine Frau lebt dort, die Kinder gehen dort zur Schule. Er wird die Stadt nie verlassen. Aber bei Dinnerpartys, auf denen Venezianer sind, geht es immer um die bedenkliche Lage der Stadt. Immer ist es Gesprächsthema. In einem Maß, dass ich es nicht mehr ertrage, darüber zu reden.

In Deutschland sind Krimis enorm populär, auch im TV, das ZDF zeigte im Jahr 2015 über 400 Krimis. Das sagt viel über unsere Spezies, nicht wahr?

Leon: Ich kann nur für meine Bücher sprechen, ich habe nie einen Fernseher besessen, nicht mal in einem Haus mit Fernseher gelebt. Ich lese kaum Kriminalliteratur. Gerade mal Raymond Chandler, Ross Macdonald, vielleicht noch Dashiell Hammett - aber das war's schon. Ich habe sie früher gelesen und die Muster gelernt.

Was halten Sie persönlich von der Flut an Krimis?

Leon: Ich finde das erschreckend. Jeder gesunde Mensch muss das erschreckend finden. Dass die eigene Spezies einen Großteil ihrer Freizeit damit verbringt, anderen Mitgliedern der Gattung dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig töten, quälen oder vergewaltigen: Das ist ein armseliger Kommentar zur menschlichen Natur.

Und wo sehen Sie die Gründe für den Krimi-Boom?

Leon: Wahrscheinlich lesen viele Leute Krimis, weil sie ihnen das liefern, was das Leben nicht bietet: eine Lösung. Beziehungsweise eine Auflösung, nicht notwendigerweise eine Lösung. Ein böser Kerl stellt etwas an, der gute Kerl erwischt ihn und der Böse wird bestraft. Aber seit wir in Zeiten leben, in denen niemand für seine Vergehen zur Rechenschaft gezogen wird, entdecken die Leser das Spiegelbild unserer Welt.

Wie meinen Sie das?

Leon: In der Wirklichkeit sehen wir, wie die großen Fische davonkommen und nicht im Knast landen. Man muss nur nach Italien schauen: Wie viele Mafiosi gehen ins Gefängnis? Wie viele Priester des Vatikan? Wir leben in einer Zeit, in der das grundsätzliche Gefühl vorherrscht, dass Verbrechen oder Böswilligkeit nicht bestraft werden. Und ich denke, dass Unterhaltung - wobei das Wort in diesem Zusammenhang schrecklich ist - das Ganze kurzweilig und angenehm macht. Ich halte das für grotesk, für pervers.

Im Gegensatz zum so genannten "hard-boiled detective" ist Ihr Held ein höflicher, zurückhaltender Mensch.

Leon: Als ich anfing zu schreiben, erschuf ich meinen Protagonisten so, wie ich ihn mögen würde. Als Mann, mit dem ich mehrere Monate Zeit verbringen könnte. Ich machte ihn zum Leser, verpasste ihm einen Sinn für Humor, ließ ihn zu einem glücklichen Menschen werden. Ich gab ihm ein unbeschwertes Leben, eine nette und kluge Ehefrau, reizende Kinder. Und ich bin sehr, sehr froh, dass ich das getan habe.

Es heißt, Sie würden sich nicht sonderlich für die Verfilmungen Ihrer Bücher interessieren. Warum eigentlich nicht?

Leon: Ich sehe sie mir nicht an, weil sie zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit meinen Büchern haben dürften, aber natürlich nicht deren 1:1-Umsetzung sind. Ich bin in keiner Weise verantwortlich für sie und habe das auch dem Produzenten von Anfang an gesagt: Wir beackern nicht dasselbe Feld.

Ihre Bücher sind in 34 Sprachen erschienen, auf Ihren Wunsch hin aber nicht auf Italienisch, um einem Starkult in Italien zu entgehen. Werden Sie Ihre Meinung eines Tages ändern?

Leon: Nein. Gestern Abend habe ich in Hamburg mit einer Italienerin gesprochen, sie stammte aus Sardinien und liest meine Romane auf Deutsch. Ich habe sie gefragt: "Ist es wahr, was ich über Italien schreibe?" Und sie sagte: "Mamma mia, es ist noch schlimmer." Diese Antwort reicht mir als Bestätigung.

Möchten Sie den Italienern nicht selbst verraten, was in ihrem Land im Argen liegt?

Leon: Nein, sie haben ihre eigenen Schriftsteller. Und die kennen Italien viel besser als ich und schreiben noch beißendere Dinge, als ich mich das je trauen würde. Wenn man wissen will, wie Italien tickt, sollte man Gianrico Carofiglio oder Leonardo Sciascia lesen. Mein Bild von Italien ist deutlich weniger düster, wegen meiner riesigen Liebe zu den Menschen und ihrem Land.

Würden Sie sich als politischen Menschen bezeichnen?

Leon: Nein. Politik interessiert mich, aber für mich ist es Blabla, es geht nur ums Reden. Mein Interesse schwindet immer mehr, weil ich die Dinge nicht beeinflussen kann. Ich habe meinen Wohnsitz in der Schweiz und glaube, dass man dort noch etwas bewegen kann - weil es in der Schweiz die direkte Demokratie gibt.

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