Buchkritik Deutschland, der große Stall der Angsthasen

Saarbrücken · Der klassische Horrorfilm mit Frankenstein-Monstern und kettenrasselnden Gespenstern ist schon lange tot. Dafür treiben heute andere Untote ihr Unwesen zwischen Angst und Lust: Handzahme Vampire sind die neuen Knuddeltiere der Kinder, Zombies verkörpern das Unbehagen in einer sterilen Konsumkultur. Nach Autoren wie Clemens J. Setz, Daniel Kehlmann und Christian Kracht nutzt jetzt auch Roman Ehrlich das Horror-Genre für psychische und gesellschaftliche Tiefenbohrungen.

„Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ ist eine eher unspektakuläre Phänomenologie der modernen Ängste. Ehrlich zitiert zwar viele Klassiker, aus Italien und Amerika, aber näher steht seine Erzählkonzept wohl doch Lars von Triers Metaphysik des sanften Schreckens. Beide machen keinen Unterschied mehr zwischen alltäglicher „Wirklichkeit“ und Kunst, Engagement und Eskapismus, „wahren“ Gefühlen und eitler Schauspielerei. Moritz, der Erzähler, bekennt, dass er schon immer gern in einem Horrorfilm mitgespielt hätte. Im Kino sitzen und sich dabei zusehen, wie man auf der Leinwand „einen aufwendig animierten, grausamen Tod“ stirbt — und dann unversehrt nach Hause gehen. Man darf das ruhig auch als Kritik an der Indifferenz seiner Generation lesen.

Ehrlichs Roman verschränkt mehrere Erzählebenen. Vor allem geht es um ein Filmprojekt, eben das titelgebende „Schreckliche Grauen“. Im Ulmer „Café Porsche“ treffen sich Regisseur und Mitspieler einmal im Monat zum Brainstorming. Reihum erzählt jeder mehr oder weniger unheimliche Schmerz- und Angstgeschichten, von kleinen Phobien und großen schweren Ängsten vor Spinnen, spontaner Selbstentzündung, Einsamkeit, Blindheit oder auch Verspießerung durch Kinder.

Von diesem Decamerone der Angst wird aber nichts umgesetzt, als Statisten und Crew einen Film realisieren wollen: Es ist eine Campingtour durch ein verregnetes, dunkles Deutschland, der Gewalt-Marsch eines Häufleins von Aktionskünstlern und Angsthasen, Marodeuren und Provokateuren. Schließlich verschwindet Christoph, nicht ohne in einer Dorfkirche sein Vermächtnis zu predigen: Der Schmerz ist das tiefste Paradox und dunkelste Geheimnis unseres Lebens, die Angst öffnet Türen in andere Welten. Am Ende versickert das ganze Projekt ein wenig unbefriedigend. Aber Ehrlich zeigt nach seinem fulminanten Debütroman „Das kalte Jahr“ und seinem nicht minder verstörenden Erzählband „Urwaldgäste“ einmal mehr, dass er derzeit einer der klügsten und unberechenbarsten Köpfe der jüngeren deutschen Literatur ist.

Roman Ehrlich: Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens. 
S.Fischer Verlag, 640 Seiten, 24 Euro.

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