Saarbrücker Ballett-Premiere Gefühlsexplosionen und Glühwürmchen

Saarbrücken · Staatstheater-Premiere von „Extravaganzen“: Der fabelhafte, dreiteilige Tanzabend zeigt uns einen ganz neuen Stijn Celis.

 Ein Moment aus Stijn Celis’ „610 Elm Drive“ (ganz links: Yaiza Davilla Gómez; ganz rechts: Micaela Serrano Romano).

Ein Moment aus Stijn Celis’ „610 Elm Drive“ (ganz links: Yaiza Davilla Gómez; ganz rechts: Micaela Serrano Romano).

Foto: Bettina Stoess/SST/Bettina Stoess

Die Versuchung ist groß, jeder der drei Choreographien dieses Ballettabends den Stempel aufzudrücken, den der Titel vorgibt und dadurch Verbindungen zu stiften. „Extravaganzen“ liefert jedes der Stücke. Aber welche überzeugende künstlerische Arbeit wäre nicht ausgefallen? Hier liegt der Fall anders. Zweifelsohne lässt sich diesmal in jedem der drei Stücke etwas finden, das den Begriff in besonderem Maß nahelegt.

Da ist zum einen die neue Arbeit des Saarbrücker Ballettchefs Stijn Celis „610 Elm Drive“. Er zitiert den Ausdruckstanz-Stil einer der überspanntesten Personen der Tanzgeschichte, Isadora Duncan (1877-1927), zu hochemotionaler Rachmaninow-Musik. Wenn das mal nicht schon vom Ansatz her ins Extreme führt, was dann? Hinzu tritt als zweites Stück „The Grey Area“ (2002) von David Dawson, eine verstörend, genial geisterhafte Arbeit, ebenfalls alles Gängige hinter sich lassend. Als dritter folgt Angelin Preljocaj, dessen ruppig-wuchtige Tanzsprache man hier bestens zu kennen meinte. Der französische Star-Choreograph gastierte mehrfach bei den Saarbrücker „Perspectives“. Doch nun verblüfft er in „La Stravaganza“ mit einer eher malerischen Überformung dieser gleichnamigen Barock-Kompositionen Vivaldis.

Nicht unwichtig zu erwähnen: Abstrakt sind alle drei Stücke. Wir werden ganz schön herausgefordert. Nicht nur durch drei gänzlich unterschiedliche Bewegungs-Grammatiken, die das vorzügliche Ensemble weitgehend mit technischer Bravour meistert. Zugleich werden wir verwöhnt, gibt es doch keinen einzigen Absturz in künstlerische Selbstbezüglichkeit. Die Choreographen suchen, obwohl sie vordergründig nichts erzählen wollen, einen intensiven, emotionalen Kontakt mit dem Publikum.

Ganz zu Beginn sind wir im Rausch mit Celis. Man reibt sich die Augen. Derart gefühlsdurchglüht ließ Saarbrückens Compagnie-Chef seine Tänzer noch nie los. Sie agieren barfuß, in seidigen Tuniken, mit denen Catherine Voeffray an die antikisierenden Kostüme Isadora Duncans anknüpft. Die hautfarbenen Strumpfhosen der Männer suggerieren Nacktheit, kurze Hemdchen entblößen Pobacken. Die Tänzerinnen wirken durchgängig verzückt und entrückt, ihre Körper hingegossen und hingeweht. Celis zeigt viele natürliche Laufbewegungen und zufällige Ausschweifungen, in denen Tangoschritte ebenso aufblitzen wie Faun-Posen eines Nijinski – Reminiszenzen an die zeitliche Bezugsebene der Duncan-Ära. Die Tänzerinnen werden durch die hämmernden Klaviertakte geradezu körperlich erschüttert, allen voran Yaiza Davilla Gómez, die sich der Musik im wahrsten Sinne des Wortes hingibt. Innerlichkeit dringt mit exhibitionistischer Gewalt nach außen, Natürlichkeit paart sich mit Pathos und Exaltiertheit. Wobei Pianist Ryo Kuroki, live auf der Bühne dabei, Rachmaninows „Sonate für Klavier Nr. 2“ (1913/14) nicht wie üblich als Orkan interpretiert, sondern überraschend schlank, klar. Sein Flügel ist das einzige Requisit auf der Bühne, die sich nur durch Farbwechsel der Rückwand wandelt, von violett über rot bis hell-orange. Die reduzierte Optik verstärkt den Effekt tänzerischen Gefühlsüberschwangs. Wahrlich, es steckt große charismatische Kraft in dem 20-minütigen Celis-Stück.

Minimalismus und Intensität bringt auch David Dawson in eins. Wir erleben mit Staunen, wie der einstige Tänzer bei William Forsythe, bis 2009 Haus-Choreograph des Semperoper Balletts Dresden, kühle Ästhetik und berückende Sinnlichkeit amalgamiert. Fünf Tänzer verweben die Figuren der klassischen Danse d’Ecole mit zeitgenössischen Elementen zu einem harmonischen Muster. „The Grey Area“ spielt in einem unwirklichen Zwischenreich. Leere Bühne, schwarze Rückwand, rechts eine überhohe graue Seitenwand. Das Licht brütet von der Dämmerung bis zur Nachtschwärze nichts als Finsternis aus. Niels Lanz‘ Elektro-Musik donnert Gewittergrollen in die Szene. Diese schwarze Magie geht direkt in die Blutbahnen. Zugleich sind da fünf ephemere Wesen zugange, durchscheinende Leuchtkörper. Die Tänzer tragen hellgrau-weiß schimmernde Kostüme und transparente Oberteile (Yumiko Takeshima), tauchen auf wie Glühwürmchen, vollführen ein geheimnisvoll durchpulstes Miteinander, als strebten sie zur Transzendenz. Ein Paar ist hier kein Pas de deux, ist nur Bewegungseinheit. Alle Bedeutung verschwimmt. Wie schwarze Gaze legt sich diese Chorographie auf unser Gemüt.

Mag sein, dass es deshalb Preljocajs „La Stravaganza“ (1997) schwer hat. Das Stück trumpft auf mit üppiger Bebilderung und musikalischen Exzessen. Man ertappt sich beim Gedanken, ob die Zeit diese Art von Ballett sich nicht überholt hat? Vor einer rot flammenden Vulkanlandschaft (Maya Schweizer) entwickelt sich die Annäherung zweier unterschiedlicher, je sechsköpfiger Tänzergruppen. Die einen, eher Naturnahen, scheinen im Hier und Jetzt zuhause, die anderen, die sich zunächst roboterhaft aufführen, in der Barockzeit. Diese Deutungsfingerzeige, aber auch die folkloristisch-ländlichen Kostüme der Ahnen-Gruppe, erlebt man fast als zu simple, biedere Erzählelemente. Hinzu tritt eine durchgängige, vorhersehbare Kontrast-Dramaturgie.

Vivaldis anmutige, munter-heitere Kompositionen werden durch stumme Passagen rabiat gestoppt und mit brutalen Industrial-Klängen gegengeschnitten. Es hämmert und sägt, Gewehrsalven knallen. Wie immer fasziniert Preljocajs energiegeladene Tanzsprache, die Animalisches mit Exaktheit, Athletisches mit Zärtlichkeit koppelt. Das Ensemble tut sich sichtlich schwer damit. Doch wenn sich irgendwann die Körper in unnachahmlicher Preljocaj-Manier ineinanderknoten, vergisst man jeden kleinen Einwand. Tänzer stampfen lassen zu Vivaldi, das wagt und kann wohl nur einer. So mündet selbst „La Stravaganza“ in Wohlgefallen. Massiver Applaus.

Nächste Termine: 9., 16., 29. und 31. März.

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