Der Comicband „Orwell“ Als die „Farm der Tiere“ noch eine Wiese war

Saarbrücken · Ein Comic-Band zeichnet das Leben des Schriftstellers George Orwell („1984“) nach.

 Als George  Orwell sich noch nicht George  Orwell nannte: Der kleine Eric Blair versenkt sich in seiner Jugend, die er später als einsam und traurig beschrieb, am liebsten in Bücher – wie hier in „Die Zeitmaschine“ von H.G. Wells. Im Band „Orwell“ finden sich immer wieder kleine Farbtupfer in den meist schwarzweißen Zeichungen von Sébastien Verdier.

Als George Orwell sich noch nicht George Orwell nannte: Der kleine Eric Blair versenkt sich in seiner Jugend, die er später als einsam und traurig beschrieb, am liebsten in Bücher – wie hier in „Die Zeitmaschine“ von H.G. Wells. Im Band „Orwell“ finden sich immer wieder kleine Farbtupfer in den meist schwarzweißen Zeichungen von Sébastien Verdier.

Foto: Knesebeck

Natürlich – an „1984“ und „Die Farm der Tiere“ hätte man diese Biografie aufhängen können. Und ein Leben schildern, das unweigerlich auf die Schöpfung dieser beiden literarischen Klassiker hinsteuert, als künstlerischen Höhe- wie Endpunkt. Doch das war nicht das Ziel des französischen Autors Pierre Christin; ihm ging es im Comic „George Orwell“ um ein erfahrungspralles Lebens trotz der vergleichsweise kurzen Dauer (Orwell wurde 46 Jahre alt), um Brüche, Irrtümer und Wendepunkte.

Christin (81) ist hierzulande am bekanntesten als Autor der legendären Comic-Reihe „Valerian & Veronique“ (Jean-Claude Mézières ist der Zeichner), einer bunten und witzigen, seit 1967 laufenden Weltraumsaga mit satirischem Linkseinschlag. „Orwell“ ist da ganz anders, dessen Biografie gemäß, ernst und melancholisch, was die feinnervigen, schwarzweißen Zeichnungen von Sébastien Verdier betonen – Schwermut liegt über dem Ganzen.

„Orwell“ beschreibt, wie der junge Eric Blair – so hieß er eigentlich –  auf dem englischen Land mit der Mutter aufwächst (der Vater arbeitet als Kolonialbeamter in Indien); Orwell wird seine Kindheit später als einsam und traurig beschreiben. Er besteht die Aufnahmeprüfung für die Eliteschule Eton, wo sein Ehrgeiz begrenzt bleibt und er sich am liebsten in Büchern von H.G. Wells, Dickens und Tolstoi versenkt; statt nach Oxford geht er lieber zur burmesischen Polizei. Bei der Überfahrt 1922 wird er sich zum ersten Mal wirklich  der Klassenunterschiede bewusst: Er beobachtet einen Mann der Besatzung, wie der eine Torte von einem Tisch der bestverdienenden Passagiere stiehlt. Das habe ihn mehr gelehrt, grübelt Orwell, „als ein halbes Dutzend sozialistischer Pamphlete“. In Burma sieht er sich als „weißer Mann mit einem Gewehr“, „eine leere Hülle“. Den Imperialismus empfindet er als „ein Übel“, auch wenn er ansonsten den englischen Traditionen zwischen Pubbesuch und kirchlichen Ritualen sehr zugetan ist; er quittiert den Dienst, lebt kurz in London, wo er oft durch die Elendsviertel streift, „als exzentrischer Bohemien mit sozialem Verantwortungsgefühl“; so beschreibt es Christin, der sich bei seinem Szenario vor allem auf Orwells Tagebücher bezieht und auf Bernhard Cricks Biografie von 1980.

 Orwell

Orwell

Foto: Knesebeck

Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris (als Tellerwäscher) lebt er in London unter Obdachlosen und schreibt darüber Reportagen; auch an Romanen arbeitet er, für die sich kein Verlag interessiert. Bei einem Ausritt mit einer Bekannten trifft ihn der Blitz der Liebe – er und seine künftige Frau sind sich in ihrem Abscheu über Aristokraten, Hitler und Stalin einig, wobei sich Orwell nicht als Salonsozialist erweist: Er kämpft ab 1936 auf Seiten der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg, wobei ihm die größte Gefahr ausgerechnet von den Stalinisten droht: Er gehört der marxistischen P.O.U.M.-Partei an, die von den Stalinisten verfolgt wird. Orwell, mittlerweile durch einen Halsschuss verwundet,  kann sich gerade so nach Frankreich retten.

In England schreibt er wieder, doch vielen linken Verlagen gefällt des Sozialisten Orwells Kritik an Russland nicht. Als der Krieg beginnt, meldet sich Orwell freiwillig – doch der Zustand seiner von Tuberkulose angegriffenen Lunge ist mittlerweile so schlecht, dass er lediglich bei der Nationalgarde verpflichtet wird. Die Passagen über London im Krieg, mit Menschen in U-Bahn-Schächten, mit einem lodernden London, sind mit die atmosphärischsten Seiten in diesem Band, der zudem einen gewitzten Kniff gefunden hat, um Orwells eigene Werke unterzubringen: Die erscheinen wie Schlaglichter und kurze Exkurse in einem gänzlich anderen Stil: Christin hat renommierte Zeichner wie Enki Bilal, Olivier Balez oder André Juillard gebeten, Passagen aus Orwells „Tage in Burma“, Beobachtungen aus der Gesellschaftshierarchie in einem Pariser Hotel oder aus der Stalinismus-Fabel „Farm der Tiere“, zu gestalten – eine sinnige Idee.

1947 tippt Orwell, wegen eines gewissen Weltekels zurückgezogen auf dem Land, wo er das Gemüseanbauen für sich entdeckt hat, die ersten Zeilen von „1984“. 1948 ist das Manuskript abgeschlossen, der lungenkranke Orwell stirbt, was der Comicband unsentimental schildert. Dem Autor Christin geht es um eine nüchterne Lebensschilderung, nicht um Rührung – die hätte nicht zu Orwell gepasst, diesem unsentimentalen Welt-Analysten.

Pierre Christin / Sébastien Verdier: George Orwell. Aus dem Französichen von Anja Kootz. Knesebeck Verlag, 152 Seiten, 25 Euro.

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