Der ästhetische Widerständler

Saarbrücken · Die Zersplitterung der Welt wollte er nicht bloß hin- und wahrnehmen, sondern ihre Teile in Beziehung zueinander setzen. Was hat uns Autor Peter Weiss („Die Ästhetik des Widerstands“) heute, am Vortag seines 100. Geburtstags, zu sagen?

 Schriftsteller Peter Weiss (1916-1982). Foto: Reiser/Suhrkamp/dpa

Schriftsteller Peter Weiss (1916-1982). Foto: Reiser/Suhrkamp/dpa

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Als im September 1981 der dritte Band der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss erschien, hatte der Autor dieser Romantrilogie nur noch wenige Monate Lebenszeit vor sich. 65 Jahre alt wurde dieser wichtige, vielseitige, ruhelose Künstler, der erst auf dem Totenbett mit dem Büchnerpreis die höchste literarische Ehrung erfuhr. Die zuvor fehlende Anerkennung durch das Land, in dessen Sprache er seine bedeutendsten Werke schrieb, schmerzt ihn lebenslang. In seinen Notizen findet sich die bezeichnende Bemerkung: "Meine Beziehung zu Deutschland ist eine gespaltne - das gespaltne Deutschl."

Der aus Nowawes bei Berlin stammende Sohn eines Textilfabrikanten muss wegen seiner jüdischen Herkunft 1934 Deutschland verlassen. Die Familie emigriert nach England, dann in die Tschechoslowakei nach Warnsdorf. In Prag besucht der früh malende und schreibende junge Autor die Kunstakademie und folgt 1939 seinen Eltern ins Exil nach Schweden. Er wird schwedischer Staatsbürger, schlägt sich mit verschiedenen Brotberufen durch und löst sich mehr und mehr von seiner Familie - ein schmerzhafter Prozess, der ihn Jahre beschäftigt. Schreibversuche, erste Dramen, Reportagen aus dem zerbombten Berlin für die schwedische Presse - Weiss experimentiert, dreht auch surrealistische und dokumentarische Filme.

Weiss bekennt sich zu Standpunkten, scheut sich aber nicht, seine Orientierungsziele häufig zu wechseln. Als er an seinem Drama über den Auschwitz-Prozess "Die Ermittlung" arbeitet, notiert er: "Weil ich nicht an politische Gesellschaftsformen glaube - so wie sie heute sind - wage ich es nicht, irgendeine andere vorzuschlagen. Natürlich ist das ein Zeichen von Schwäche . . . Ich stehe aber nur in der Mitte. Ich vertrete den dritten Standpunkt, der mir selber nicht gefällt . . . Ich schreibe, um herauszufinden, wo ich stehe, und deshalb muß ich jedes Mal all meine Zweifel hineinbringen." Nur bei einem Standpunkt ist er sich seiner Sache sicher: "Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit."

Seine frühen Prosa-Stücke "Die Versicherung", "Die Ermittlung" oder "Vietnam-Diskurs" bleiben im nüchternen Berichtston des Dokumentartheaters, während sein großes Roman-Werk "Die Ästhetik des Widerstands" Kunst und Politik, Sozialismus und Klassizismus durch eine strenge Prosa miteinander zu verbinden versucht. Diese "Wunschbiographie" - wie Weiss seinen Roman nennt - beschreibt den antifaschistischen Widerstand: Spanischer Bürgerkrieg, Widerstandskämpfer des schwedischen Exils, die "Rote Kapelle", aber auch die innere Zerfleischung der kommunistischen Bewegung und die Moskauer Schauprozesse. Es ist ein politisches Lehrstück im Muster eines Lebensweges, ein politisch-ästhetisches Traktat, dessen Held wie der Autor am 8. November geboren ist - nur ein Jahr später, 1917, dem Jahr der Oktoberrevolution.

In dieser fiktiven Autobiographie beschreibt Weiss zugleich in einer fast universalistischen Geste die Sozialgeschichte der Kunst als ein Archiv historischer Schrecknisse und des Widerstands: Pergamonaltar, Angkor, Dürers Melancholie, Géricaults Floß der Medusa oder Picassos Guernica. Die Stärke des Autors beruht nicht zuletzt darauf, dass er die Traditionen des deutschen Bildungs- und Entwicklungsromans mitsamt dem Respekt vor der griechischen Mythologie und den schönen Künsten auf ihre Zuverlässigkeit und Nutzbarkeit für die Zeit nach dem Schrecken der Weltkriege hin untersucht. Der Versuch, die an Widersprüchen reiche Geschichte des Kommunismus und progressive Werke europäischer Kunst literarisch aufzuarbeiten, war in den 70ern und 80ern eine Sensation. Weiss zielte auf nichts Geringeres als die utopische Deutung der Zeitgeschichte ebenso wie der Literatur- und Kunstgeschichte. Er wollte die Zersplitterung der Welt nicht bloß spüren, sondern ihre Teile miteinander in Beziehung bringen. Darin liegt, gerade heute, seine so wichtige Modernität.

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