Literatur Mit reichlich Wodka im Blut zum großen Brecht

Berlin · Günter Kunert gilt als großer gesamtdeutscher Dichter und als begnadeter Geschichtenerzähler. Heute wird er 90 und schenkt sich selbst ein neues Buch.

 Grimmiger Blick, aber ein humorvoller Roman: der 90-jährige Günter Kunert mit seinem neuen Buch „Die zweite Frau“.

Grimmiger Blick, aber ein humorvoller Roman: der 90-jährige Günter Kunert mit seinem neuen Buch „Die zweite Frau“.

Foto: dpa/Georg Wendt

Auf die Frage, woher er seine Inspiration nehme, antwortete Günter Kunert mal: „keine faulen Äpfel“. Er spielte damit auf seinen Dichterkollegen Friedrich Schiller an, der mit den Ausdünstungen modernder Äpfel den Schlaf zu vertreiben suchte, um die Nacht durch schreiben zu können. Schiller starb bekanntermaßen mit 45 Jahren an einem Lungenleiden. Günter Kunert feiert heute seinen 90. Geburtstag.

Im Osten war Kunert eine Institution. Er gehörte zu den am meisten gelesenen Schriftstellern. Auch im Westen hatte er sein Publikum. Sein Herausgeber Hubert Witt nannte ihn deswegen einmal einen „gesamtdeutschen Dichter“, der in seinen frühen Jahren als überzeugter Kommunist in der DDR versucht habe, die engen Grenzen des Denkens, Sagens und Schreibens zu erweitern, bis er am real existierenden Kommunismus scheiterte und 1979 einen Ausreiseantrag stellte.

1929 in Berlin geboren darf der kleine Günter, der NS-Rassengesetze wegen keine höhere Schule besuchen. Seine Mutter ist Jüdin. Als kluge Frau füttert sie ihn mit Büchern, um ihn dennoch mit dem nötigen Selbstbewusstsein zu stärken. Nach dem Zweiten Weltkrieg fängt er in Ost-Berlin ein Grafikstudium an, das er abbricht. Zeitlebens wird er malen, mehr noch aber faszinieren ihn die Bücher. Er will aber unbedingt Schriftsteller werden. Wie soll er das anstellen?

Mit viel Wodka muss sich Günter Kunert ordentlich Mut antrinken, als er 1951 ins vom Krieg zerbombte Hotel Adlon in Berlin schleicht. Er will dem dort abgestiegenen Bertolt Brecht Gedichte zeigen. Wie im Paradies kommt er sich vor, als er die Berge von Konservendosen im Zimmer des aus seinem amerikanischen Exil zurückgekehrten Dramatikers erblickt. Kunert schafft es wirklich, dem großen Brecht seine Texte zuzustecken. Als der sie ihm später korrigiert zurückgibt, steht mit Kuli an den Rand gekritzelt: „Kürzer, kürzer. Alles Überflüssige muss weg.“

Man sollte meinen, Kunert hat sich die Worte zu Herzen genommen. Ein Leben lang schreibt er Gedichte, Essays und Kurzgeschichten. 1979 verlässt er die DDR. Seine Musen nimmt er mit ins Exil. Mit sieben Katzen und Ehefrau Marianne reist er aus, nachdem er aus der SED ausgeschlossen worden war, weil er als einer der ersten die Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterzeichnet hatte. In dem verschlafenen Örtchen Kaisborstel bei Itzehoe in Schleswig-Holstein findet Kunert ein neues Zuhause in einem alten Bahnhofsgebäude. Zur Begrüßung im Westen gibt‘s erst mal einen Fresskorb von Günter Grass. Marcel Reich-Ranicki rät ihm, einen Steuerberater anzuheuern. Auch im Westen bleibt Kunert aktiv. Nach der Wende ist er von 2005 bis 2018 Vorstandspräsident des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Mehr als 30 Lyrikbände hat Günter Kunert herausgebracht. In seinen Gedichten geht es um Mythologie, Natur, Liebe und das Reisen. Obwohl er sich im Alter immer mehr zum Kulturpessimisten entwickelt, die Gesellschaft allgemein, die Umweltverschmutzung und den fortschreitenden Kulturverlust mit kritischen Augen beobachtet, hat die „Kassandra aus Kaisborstel“, wie er sich selbst mal nannte, den Humor nicht verloren.

Die Überraschung war groß als bekannt wurde, dass rechtzeitig zum 90. Geburtstag ein bisher unbekannter Roman erscheinen wird. In einer Truhe hat Kunert das Manuskript beim Ausmisten entdeckt. Dort schlummerte es 45 Jahre lang. Weil der Roman mit dem Titel „Die zweite Frau“ in der DDR eh keine Chance auf eine Veröffentlichung gehabt hätte, habe er es erst gar nicht probiert. Was jammerschade gewesen wäre. Handelt es sich doch um eine humorvolle Abrechnung mit den Zuständen im Arbeiter- und Bauernstaat.

Weil der 40. Geburtstag seiner Ehefrau Margarete Helene ansteht, macht sich der Archäologe Barthold auf die Suche nach einem Geschenk. Etwas Besonderes soll es sein. Schon, weil die holde Gattin beim Ausmisten des Gartenschuppens einen fremden Büstenhalter gefunden hat und jetzt überzeugt ist, dass ihr Mann eine Affäre hat. Doch die Suche nach einem Geschenk gestaltet sich in der DDR-Mangelwirtschaft als schwierig. Weder Geschirrspülautomat noch Pelzmantel sind zu haben. Es ist ein bezaubernder Roman, voller Fabulierlust, mit dem sich Kunert das schönste Geschenk zum Geburtstag selbst beschert.

Günter Kunert: Die Zweite Frau. Wallstein Verlag, 200 Seiten, 20 Euro.

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