Theater-Premiere Das Unglück lauert im Joke

Saarbrücken · Zu gut, um so kurz zu sein: Goethes „Werther“ als rasante, unterhaltsame Einmann-Performance von Raimund Widra. Am Freitag war Premiere in Saarbrückens Alter Feuerwache.

 „Die Würde des Mannes ist unten tastbar“: Raimund Widra in Maik Priebes Saarbrücker Version von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“.

„Die Würde des Mannes ist unten tastbar“: Raimund Widra in Maik Priebes Saarbrücker Version von Goethes „Die Leiden des jungen Werther“.

Foto: Martin Kaufhold/SST/Martin Kaufhold

Lottelottelottelottelottelotte. Und so on. Werther erwähnt den Namen gefühlte tausend Mal in seinen Briefen. Zeitweise sind in Saarbrückens Alter Feuerwache die Wände bis unter die Decke mit Hunderten von Lotte-Schriftzügen tapeziert. Ja, es ist tragisch, es ist komisch: Der Kosmos von Goethes weltberühmten Helden schrumpft nun mal auf diese vier Buchstaben.

Daneben gibt’s in Saarbrücken nur noch Wertherwertherwerther, denn egomanisch ist dieser Typ auch. Hier sieht man’s überdeutlich, eine trickreiche Spiegelung der Video-Aufnahme macht‘s möglich: Der Schauspieler Raimund Widra verpasst sich selbst einen ausgiebigen Zungenkuss. Und wenn es denn überhaupt an dieser aus Magdeburg importierten Inszenierung mit unkonventionellem Low-Budget-Charme etwas auszusetzen gibt, dann das: Dass der Titelheld, der 1774 auch an sich und der Welt litt, an beruflichem Misserfolgen und höfischen Konventionen, hier auf das Profil eines liebeskranken Nervenbündels reduziert wird. Außenwelt, Umfeld? Die ambivalente Beziehung zum Konkurrenten Albert, Lottes Verlobten? Nebensache.

Das ist in Text und Konzept zwar so angelegt – 1997 brachte schon Nicolas Stemann den „Werther“ als Einpersonenstück und Performance heraus. Doch bei Regisseur Maik Priebe endet es dann doch eine Spur zu eindimensional. Geschenkt. Denn wie soll man einem Hauptdarsteller widerstehen, der vor Glückseligkeit das Mikrofon anknabbert? 60 knappe Minuten lang stürmt und drängt Widra mit Turbo-Tempo von einem Gag zum nächsten, sprintet durch die Zuschauer, japst vor Enthusiasmus und stürzt sich schließlich ohne Vorwarnung, als seien wir beim Freejumping, vom Euphorie-Himalaya ins Tal der Tränen. Dazu haut er uns Techno-Disco-Sound oder Pop-Songs auf die Ohren.

Wie ein DJ agiert Raimund Widra in einer Art Werkstatt-Setting auf leerer, dunkler Bühne. Zwei Tische, Licht- und Ton-Steuerungs-Geräte, eine Videoleinwand und eine Kamera genügen. Hier erleben wir keinen Mann mit einem Schatten auf der Seele, sondern einen clownesken Kindskopf, der sich mitunter drastisch durchkalauert: „Die Würde des Mannes ist unten tastbar“. Widra sorgt zudem für ironische Distanz zum Geschehen, indem er das Publikum mit einbezieht oder die Souffleuse fragt: „Albert ist angekommen. Hatten wir das nicht gestrichen?“ Bei dieser Produktion lauert das Unglück mithin im Joke.

Dabei ist alles so ikonenhaft tragisch. Ein junger Typ weiß nicht, wohin mit sich. Auf jeden Fall nicht ins bürgerliche Leben, denn er fühlt sich als Künstler. Dann trifft er Lotte, die allzu artig, vergeben und nur platonisch eroberbar ist. Das Ganze wird zur Obsession, endet im wohl berühmtesten Selbstmord der Weltliteratur. So weit so immer wieder gut. Vor allem im Original, Goethes autobiografisch eingefärbtem Briefroman. Auch Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ erreichte 1974 Kultstatus, und Stemanns Bühnenfassung tourt seit 1997 weltweit. Das Saarbrücker Publikum sah sie 2002 bei den „Perspectives“. Einen Film gab’s dann auch noch. An „Werther“-Unterversorgung kann man demnach nicht leiden. Oder doch? Jawohl, nach diesem erstaunlichen, heftig beklatschten Theaterabend. Weil alles eigentlich viel zu schön ist, um so kurz zu sein.

Widra fehlt jedes Imponiergehabe, jede Eitelkeit, und niemand vermisst die Seelenschau, kaum jemand bemerkt, dass in dieser rasanten und amüsanten Charmeoffensive für Schönheit, Klang und Tiefe der Goetheschen Sprache kaum Raum bleibt. Nein, dieser Abend unternimmt keine Tauchexpedition ins Goethesche Gedankenmeer, er nimmt uns mit zum Werther-Surfen.

Nächste Aufführungen: 30.12., 17.1., 19.1., Karten unter (0681) 93 09 24 86.

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