Das Leben und die Leerstellen

Saarbrücken · Am Dienstag liest Guntram Vesper im Saarbrücker Filmhaus aus seinem opus magnum „Frohburg“, für das der 75-Jährige im März den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat. Ein peotisches Werk voller Erinnerungsarbeit und kunstvoll ineinander verwobener Erzählfäden.

 Schriftsteller Guntram Vesper. Foto: Bogenberger / autorenfotos.com

Schriftsteller Guntram Vesper. Foto: Bogenberger / autorenfotos.com

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Frohburg ist trotz des klingenden Namens keine fiktive Stadt. Vielmehr ist sie "auf halber Fernstraßenstrecke zwischen Leipzig und Chemnitz, dort, wo die Tieflandsbucht, die Kohlenebene aufhört und das sächsische Hügelland anfängt, eine Vorstufe des Erzgebirges" zu finden, wie Vesper selbst ausführt. Eben in jener sächsischen Kleinstadt wurde Guntram Vesper 1941 als Sohn eines Landarztes geboren. Und dort verbrachte er seine Kindheit und Jugend, bis er zusammen mit seiner Familie 1957 in die Bundesrepublik übersiedelte beziehungsweise flüchtete und nach einem Medizinstudium in Göttingen als Schriftsteller dort sesshaft wurde. Doch Frohburg, das bezeugt der Roman eindrucksvoll, hat Vesper nie losgelassen. Denn "irgendwo im Land", schreibt Vesper, "gibt es den Ort, die Straße, das Haus, wir haben dort die Kindheit verbracht, wir kommen schwer davon los."

Wohl wahr: Von Vesper, der vor allem als Lyriker und Hörspielautor bekannt wurde, liegen tatsächlich zwei Bücher mit dem identischen Titel "Frohburg" vor. Zwischen ihnen liegen 31 Jahre und rund 900 Seiten. Während sich im ersten, 1985 bei S. Fischer veröffentlichten schmalen "Frohburg" Gedichte und Aufsätze befinden, wartet der "ausufernde Frohburgroman" mit einer Vielzahl von Stimmen, Poesien, Bruchstücken und Geschichten privater, lokaler und geschichtlicher Provenienzen auf. Sie zeugen von der jahrelangen, manischen Sammel- und Erinnerungsarbeit des Verfassers, der den Verlust der Herkunftswelt in erratisch-assoziativer Weise dem Vergessen entreißt.

Getrieben wird er von der Angst vor dem endgültigen Verlust, wie der Erzähler beim Tod seiner letzten Tante beklagt: "Jetzt muss ich mit dieser Lücke wie mit hunderten anderen Fehlstellen zurechtkommen und aus den Bruchstücken das Ganze erraten." Der Erzähler vermisst das biographische Gelände neu und entwirft haarklein seine imaginierte Topographie, in der verschwundene Orte und Personen im Panoptikum Frohburgs, Sachsens und der ehemaligen DDR wiederauferstehen. Die Frage nach der Gattungsfrage gestaltet sich freilich schwierig, ist letztendlich nicht endgültig zu beantworten, worauf auch das mottohaft vorangestellte Fontane-Zitat hinweist: "Für etwaige Zweifler also sei es ein Roman!"

Ob nun Roman, "Sachsenspiegel des 20. Jahrhunderts" oder mäandernder Bewusstseinsstrom - in seiner epischen Anlage erinnert Vespers "Frohburg" nicht von ungefähr an die wortgewaltigen Prosawerke von Peter Kurzeck, Uwe Johnson und Walter Kempowski, die ebenfalls deutsches Leben im 20. Jahrhundert im Kaleidoskop ihrer eigenen Erfahrungen abzubilden wussten. Dass Vesper für die Drucklegung auf 400 Seiten verzichtete, mindert den vertrackten, stark abschweifenden Erzählstrom des sich allmächtig gerierenden Erzählers nicht im Geringsten - und stellt in diesem Sinne auch höchste Anforderungen an den Leser. Die kunstvoll ineinander verwobenen - zum Teil erst nach erheblichen Pausen wiederaufgenommenen - Erzählfäden (phasenweise nur in Halbsätzen oder Stichwörtern) greifen Ereignisse der Privat, Lokal- und Ereignisgeschichte auf.

Im Erzählfluss beschreibt Vesper minutiös seine Lektüre-Erfahrungen und die radikalen Umbrüche der späten Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit in und um Frohburg: Liquidierungen durch Rotarmisten, Vergewaltigungen und Morde miteingeschlossen. Von Grausamkeit, Mord und der Angst vor Mördern berichtet auch Frank Witzel in seinem unlängst preisgekrönten Roman "Die Erfindug der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969", der ebenfalls in der Provinz angesiedelt ist. Gewalt, Provinz und Adoleszenz - Vespers "Frohburg" kann als Pendant zu Witzels westdeutscher Geisterbeschwörung gelesen werden. Und dennoch ist es ein freistehender riesiger Monolith, der noch über Generationen von Lesern ragen wird.

Guntram Vesper: Frohburg. Schöffling & Co, 1008 S., 34 €. Vesper liest am Dienstag um 20 Uhr im Saarbrücker Filmhaus auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung Saar in Zusammenarbeit mit Ludwig Hofstätter und SR2 KulturRadio.

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