Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss

Saarbrücken · Kann es sein, dass das autobiografische Erzählen mit seiner Simulation von Echtheit, das derzeit en vogue ist, viel mit amerikanischen TV-Serien gemeinsam hat? Beide scheinen kein Ziel und kein Ende zu haben.

 Autor, Satiriker und Übersetzer: Gerhard Henschel. Fotos: dpa

Autor, Satiriker und Übersetzer: Gerhard Henschel. Fotos: dpa

Kaum ein Autor wird derzeit so gefeiert wie Karl Ove Knausgård und sein autobiografisches Projekt "Mein Kampf". Schriftstellerkollegen, Leser und Kritiker schwärmen von einem unwiderstehlichen Sog wie einst bei Harry Potter. Dabei erzählt der 46-jährige Norweger in seinem auf sechs Bände und 3500 Seiten angelegten "Authentizitätsprojekt" eigentlich nur ohne Scham und Scheu vor Peinlichkeiten von seinem Säufervater, von eigenen alkoholischen Exzessen, sexuellen Desastern, Beziehungskrisen und Windelwechseln. Mit Band fünf, "Träumen", ist er nun bei seinen literarischen Lehrjahren in Bergen angelangt.

Man kann Knausgårds Versuch, die "Grenzen zwischen Leben und Literatur" einzureißen und Alltag quasi im Maßstab 1:1 zu beschreiben, banal, trivial oder langweilig finden. Aber man spürt auch den Rhythmus eines fremden Lebens, von dem man sich nicht ungern einlullen lässt. Kein übertriebener literarischer Ehrgeiz, kein konzeptioneller Überbau: Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss, der nicht künstlerisch verdichtet werden muss. Wir schauen wem beim Leben zu, müssen selber nichts tun. Knausgård ist ein Extremist des Erinnerns. Auch bei uns gibt es ähnliche Projekte, nur nicht so kompromisslos und humorlos-verbissen.

Joachim Meyerhoff hat gerade "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" veröffentlicht, den dritten Band seines sechsteiligen Erinnerungsprojekts "Alle Toten fliegen hoch". Gerhard Henschel legte kürzlich nach dem Kindheits-, Jugend- und Bildungsroman den "Künstlerroman" seines Alter Egos Martin Schlosser vor. Meyerhoff weiß als Burgtheater-Rampensau, wie man eine Jugend zwischen Irrenhaus und Schauspielschule im anekdotenseligen Erzählduktus als süffige Tragikomödie inszeniert, Henschel ist von Haus aus Satiriker. Es gibt auch ehrgeizigere Projekte: Ralf Rothmann hat seinen autobiografischen Ruhrpott-Zyklus unlängst mit einem schönen Vater-Buch ("Im Frühling sterben") gekrönt. Andreas Maier ist mit "Der Ort" beim sechsten von elf Bänden seiner heimatkundlich-essayistischen Selbstvergewisserung "Ortsumgehung" angelangt. Und Peter Kurzecks autobiografisches Großprojekt "Das alte Jahrhundert" konnte 2013 nach fünf Bänden nur sein Tod stoppen.

Woher kommt diese Lust an ebenso kleinteiligen wie großformatigen Lebensmitschriften? In den 70ern war das autobiografische Erzählen weithin verpönt. Walter Kempowski wurde von der Kritik lange nicht ernst genommen: Große Zeiten forderten große, politisch und ästhetisch reflektierte Romane; das nostalgische Herumkramen im Familienalbum galt als eskapistisch und spießig. Nach der Wende 1989, nach Jahren ideologischer Dürre, Neuer Innerlichkeit, blutleerer Nouveau-Roman-Experimente stand plötzlich wieder die "Wiederkehr des Erzählens" auf der Tagesordnung. Die Rückkehr zu "realistischen" Erzählformen bescherte uns eine Flut an Krimis, Familien- und historischen Romanen - und jede Menge autobiografischer "Projekte".

"Das Herz irrt sich nie": Knausgård verteidigt den Authentizitätsanspruch der 68er und treibt ihn weiter, bis ins eigene Fleisch: Das Private ist öffentlich, der Schriftsteller muss aufrichtig sein. Knausgård will schreibend dem Leben "so nah wie möglich" kommen. Zeigen, "wie man ist, wenn niemand zuschaut": Kunst ist Kompromiss, Eitelkeit, Lüge. Natürlich ist auch dieser Gestus unverstellter Natürlichkeit Inszenierung und nicht eben neu. Schon Rousseau wollte sich in seiner Autobiografie als Lügner, Onanist und Exhibitionist zeigen, damit man dem reuigen Sünder vergebe.

Heute stehen dem Drang zur Selbstdarstellung noch andere Medien, Kommunikationsmittel zur Verfügung. Knausgård lässt Erinnerung so maß- und hemmungslos sprudeln wie die Selfies, Statusmeldungen, Tagebuchnotizen und Kätzchen-Videos in sozialen Netzwerken. Außenwelt (Gesellschaft, Politik, Geschichte) kommt in seinen literarischen Selfies allenfalls am Rande vor.

Beim Kempowski-Schüler Henschel ist es eher umgekehrt. Sein Martin Schlosser definiert sich über die Dinge, die ihn umgeben: Schokoriegel, Weichspüler, Bioenergetikseminare. Alles fließt durch ihn hindurch, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. "Schlichte, aber strikte Linearität des Zeitstroms", schrieb Frank Schulz über seinen Kollegen Henschel, "reißt uns mit in eine Art Simulation des Zeitstroms, deren Wirkung ein etwaiger dramaturgischer Bogen nur stören könnte".

Das erinnert nicht zufällig an Reality-TV und Premium-TV-Serien wie "Breaking Bad", "The Wire" oder "Mad Men". So wie diese Gesellschaftsromane unserer Zeit sind, sind umgekehrt die autobiografischen Erzählprojekte eine Art Endlos-Serie, langsames, episodenübergreifendes "horizontales Erzählen" in Ich-Form, weitgehend befreit von vorgegebenen Formaten und literarischem Erwartungsdruck. Komplexe Charaktere, eine fortlaufende Geschichte, keine Zensur, keine Stars: Was "Mad Men"-Produzent Matthew Weiner als Seriendramaturgie beschrieb, gilt auch für die Erinnerungsromane eines Knausgård oder Meyerhoff. Sie haben kein Ziel, keine Struktur, nicht einmal Spannungsbögen. Eine Erfahrung, die die meisten mit ihrem Leben machen.

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