Festival Perspectives: „Vies de papier“ Das Leben der anderen (und auch das eigene)

Forbach · Melancholisch und sehr berührend: Das dokumentarische Stück „Vies de papier“ erforscht Spuren eines unbekannten Lebens.

 Benoit Faivre im Raum der Erinnerungen.

Benoit Faivre im Raum der Erinnerungen.

Ein trauriger Gedanke: Nach dem eigenen Tod steht das Album mit den liebsten Erinnerungsfotos nicht bei den Verwandten im Regal – sondern wird auf dem Flohmarkt verscherbelt. An Menschen, die einen nie gekannt haben. Diese Entsorgung per Trödel kann aber auch tröstlich enden: Falls das Album Künstlern wie Benoit Faivre und Tommy Laszlo auf einem Brüsseler Flohmarkt ins Auge fällt, sie es kaufen und sich dann auf Spurensuche machen, versuchen, ein vergangenes, unbekanntes Leben zu erforschen. So entstand das dokumentarische Stück „Vies de papier“, das die französische Künstlergruppe „La Bande Passante“ bei den Perspectives am Dienstag und gestern im Forbacher Le Carreau gezeigt hat – bittersüß und  melancholisch.

Bilder aus dem Album bedecken (als Kopie) den Bühnenboden, wie ein Laminat der Erinnerungen, auf dem Faivre und Laszlo mit der Kamera Bilderreihen abfahren und die Ausgangspunkte ihrer Suche auf eine Leinwand projizieren: eine Geburtsanzeige der unbekannten Christa (von 1931), Kinderbilder, ein Ostseestrand mit flatternder NS-Flagge; Bilder, die Christa als Frau zeigen, dann Aufnahmen ihres offensichtlichen Ehemanns. Das Album endet mit einem Brüsseler Reihenhaus, vor dem ein Pudel zufrieden hechelt.

Was passierte danach, fragen sich Faivre und Laszlo. Und: Wer hat diesen liebevollen Erinnerungsschatz so lieblos auf dem Flohmarkt entsorgt? Diese Fragen sind Wegweiser auf der Reise, die die beiden mit Kamerafrau Marie Jeanne Assayag-Lion nun antreten – beziehungsweise schon angetreten haben: Denn der Film, der dabei entstanden ist, läuft nun auf einem Teil der Leinwand ab, während das Duo, immer wieder auch live kommentierend, Land- und Postkarten, Merkzettel und Illustrationen unter eine Kamera hält, die das Ganze dann auf den kleineren Teil der Leinwand überträgt.

Nach Berlin geht es, zum Strandbad Zinnowitz und nach Regensburg, Wohnort Christas als Kind, wo einer der eindringlichsten Momente gelingt: Faivre und Laszlo verbinden einen Bericht der Alliierten über ein Bombardement Regensburgs, dem Ort der Messerschmitt-Flugzeugwerke, mit einem Kinderbild Christas auf dem Fahrrad. Der Kontrast zwischen kindlicher Unschuld und Bombenhagel ist zum Heulen.

Während das Duo weiterforscht, spielen immer stärker auch Gedanken an die eigenen Verwandten hinein – an Faivres Großmutter, die im Berlin der Kriegszeit aufwuchs, bevor sie das Land verließ, und an Laszlos Großmutter, die vor den russischen Kommunisten aus Ungarn floh. Das macht diese Spurensuche noch vielschichtiger, detektivische Recherche verbindet sich mit Reflexionen über die eigene Vergangenheit. Das berührt, wirkt aber in seltenen Momenten etwas gewollt; das ist die einzige Schwäche des Stücks, das bis zum Ende seine Spannung hält. Denn lebt Christa noch – eine Möglichkeit, an die die beiden bisher nicht gedacht haben? Die Hoffnung erfüllt sich nicht, aber man erfährt den Grund der Album-Entsorgung: Nach dem Tod Christas und ihres Mannes hatte einfach niemand mehr Interesse daran. So einfach ist das, und so traurig. Gut, dass „Vies de papier“ zumindest diese Erinnerungen gerettet hat.

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