Analyse der Krise der Moderne Das gefährdete Projekt der Moderne

Saarbrücken · Pankaj Mishra fahndet in „Das Zeitalter des Zorns“ nach den Ursachen für die Krise des heutigen Liberalismus.

 Das Zeitalter des Zorns

Das Zeitalter des Zorns

Foto: S. Fischer

Den Mythos vom Tellerwäscher, der zum Millionär aufsteigt, könnte man als das große Versprechen des Liberalismus verstehen: Jeder hat nicht nur die gleichen Rechte, sondern auch die gleichen Chancen; jeder ist seines Glückes Schmied. Wir sehen aber heute, dass dieses Versprechen für eine große Zahl von Menschen drastisch an Überzeugungskraft verloren hat. Das gilt nicht allein für jene Länder, die in den letzten 200 Jahren zu den Verlierern der kapitalistischen Dynamik gezählt haben und heute verzweifelt versuchen, sich in die globalen Handelsströme einzufügen. Sondern auch für die Kernländer des Liberalismus, wie Pankaj Mishra in seinem neuen Buch feststellt. Die einmal geweckten Wünsche lassen sich, so Mishra, nicht mehr bändigen – schon gar nicht in der Ära des Internets.

Diese Diagnose steht im Zentrum seiner kürzlich erschienenen Studie „Das Zeitalter des Zorns“. Die Symptome, die dem Befund zugrunde liegen, lassen sich nicht mehr übersehen: stetig wiederkehrende Finanzkrisen, nationalistische Strömungen allerorten, weltweiter Terrorismus, Kriege, rechte Bewegungen, Brexit, die Wahl Donald Trumps und die Unterhöhlung demokratischer Institutionen in der Türkei, in Polen, in Ungarn oder die Sehnsucht nach starken Führern – die Liste ließe sich problemlos noch erweitern. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr repräsentiert, sondern ausgeschlossen und machtlos. Und sie reagieren auf die Komplexität und Unüberschaubarkeit aktueller Probleme mit irrationaler Wut, mit Chauvinismus und Gewalt.

Der 1969 geborene, indische Gesellschaftstheoretiker und Schriftsteller Pankaj Mishra versucht, herkömmliche Erklärungsmuster der derzeitigen Krise zu unterlaufen. Und so zu einem anderen Verständnis akuter Verwerfungen und des unheiligen Zorns etwa der Dschihadisten beizutragen. Unter der Schicht quasireligiöser Rhetorik des IS verberge sich nämlich etwas, das an weltlich ausgerichtete Radikale des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie Michael Bakunin oder Gabriele D’Annunzio erinnere: Frauenverachtung, Kriegsverherrlichung, Nationalismus, Judenhass und Ressentimens gediehen damals mitten in Europa. Hintergrund war die zu tiefen Erschütterungen führende Industrialisierung. Der Anarchismus fand viele Anhänger; europäische Großstädte wurden von Bombenattentaten heimgesucht. Mishra verfolgt die Spur der Gewalt und der Kritik an der Aufklärung und am Liberalismus von Rousseau über die Romantiker bis zum Faschismus und Stalinismus im 20. Jahrhundert auf geradezu stupende Weise. Er entdeckt tiefe Bezüge zu unserem heutigen „Zeitalter des Zorns“. Das grundlegende Problem sei, so Mishra, dass moderne Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Wohlstand niemals für die Mehrheit vorgesehen gewesen seien. Voltaire habe zwar für die Meinungsfreiheit und eine bürgerliche Gesellschaft gestritten, sich zugleich aber der herrschenden Klasse anheischig gemacht. Dass auch der kleine Mann in den Genuss bürgerlicher Rechte und wirtschaftlichen Wachstums kommen sollte, hatten die frühen Aufklärer kaum im Sinn. Erst in Folge der Französischen Revolution sollten liberale Ideen universell durchgesetzt werden – auch mit imperialistischer Gewalt. Dieses Projekt der Moderne allerdings stößt seither immer wieder an Grenzen. Traditionelle Beharrungskräfte und irrationale Stimmungen werden von Liberalen häufig unterschätzt. Die Gefühle von Ungerechtigkeit und Frustration sind schließlich da unvermeidlich, so Mishra, wo sich das Versprechen von Gleichheit und Prosperität in der globalisierten Welt nur für wenige erfüllt wird.

An den metaphysischen Dualismen festzuhalten und die vorgebliche Rationalität liberaler Demokratien dem „islamischen Irrationalismus“ entgegenzusetzen, ist nach Pankaj Mishra der sichere Weg in den Untergang demokratischer Gesellschaften. All dies verschleiere nur die wirklichen Konflikte, die den Westen seit dem 19. Jahrhundert prägen und die er schließlich in weite Teile Asiens und Afrikas exportiert hat. Die Ideologie der Anhäufung privaten Reichtums nämlich erzeuge unweigerlich Zorn bei jenen, die sich abgehängt fühlen.

Was aber ist die Alternative zum Projekt der Moderne? Darüber gibt das Buch keine Auskunft. Es endet sehr allgemein mit dem Plädoyer für ein verändertes Denken über das Ich und die Welt: Man müsse anerkennen, dass die Widersprüche und Kosten des Fortschritts enorm seien und die Globalisierung für viele Menschen Unsicherheit und Armut bedeute. Auch wenn Mishra viele Krisensymptome über einen Kamm schert und manch positive Entwicklung seit 1945 in Sachen Demokratisierung außer Acht lässt: Sein Blick auf die liberale Weltordnung, die Dialektik der Aufklärung und die Verknüpfung geistiger Strömungen verschiedener Epoche ist gleichwohl originell, anregend, provokant. Als Geschichtsschreiber der Gegenwart weist Mishra eindrücklich auf die blinden Flecken in unserem Denken hin.

Pankaj Mishra: Das Zeitalter des Zorns. Eine Geschichte der Gegenwart. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff und Michael Bischoff. S. Fischer, 416 S., 24 €.

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