Neue Bücher Das Eindeutige ist das Falsche

Saarbrücken · Ein erhellendes Buch erklärt, warum die Vielfalt verloren geht und wohin dies führt.

2011 schrieb Leibniz-Preisträger Thomas Bauer, der in Münster Islamwissenschaft und Arabistik lehrt, ein wichtiges Buch mit dem Titel „Die Kultur der Ambiguität“. Darin zeichnete er nach, dass der Islam (hinsichtlich Koranauslegung und Akzeptanz anderer Religionen) bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durch große Toleranz geprägt war. Erst in der Konfrontation mit dem wirtschaftlich und militärisch überlegenen Westen habe der Islam, zunächst in die Defensive gedrängt und dann die Ideologisierungen des Westens selbst übernehmend, seine jahrhundertelange Offenheit nach und nach eingebüßt, schrieb Bauer seinerzeit.

In einem neuen, kleinen Bändchen, erschienen in der bewährten 100-Seiten-Reclam-Reihe „Was bedeutet das alles?“, unternimmt Bauer nun den Versuch, seine Ambiguitätstheorie auf unsere Gesellschaft anzuwenden. Das gelingt vortrefflich; insoweit ist sein in jede Brusttasche passender Essay „Die Vereindeutigung der Welt“ als gesellschaftliches Positionspapier absolut empfehlenswert.

Ambiguität meint Mehrdeutigkeit – sei es nun, weil eine Sache nicht ganz trennscharf zu bestimmen (und daher eher vage) ist oder aber unterschiedliche Bedeutungen hat. Bauers Ansatz zielt darauf ab, als Gradmesser für den Zustand unserer Zeit und Gesellschaft deren „Ambiguitätstoleranz“ zugrundezulegen. Mit anderen Worten: Wie ausgeprägt ist heute noch der Drang zu eindeutigen, klaren Positionen und wie groß umgekehrt die Bereitschaft, auf letzte Sicherheiten zu verzichten und eher im Sinne eines Sowohl-als-auch zu agieren und Ambivalenzen zuzulassen? Dass dies elementare, zentrale Daseinsfragen sind, macht Bauer in seinem Essay schnell deutlich.

Mit Blick auf die schwindende Bedeutung von Religion (in der westlichen wie auch der islamischen Kultur) sieht Bauer einen Zusammenhang mit dem überall erkennbaren Verlust von „Ambiguitätstoleranz“. Wieso? In erster Linie, weil Religion die Vorstellung von Trans­zendenz voraussetzt (und damit von etwas jenseits rationalistischer Eindeutigkeiten). Wo sich Religion hingegen fundamentalistisch gibt und „Eindeutigkeit vorgaukelt“, wie im heutigen orthodoxen Islamismus, verrät sie für Bauer ihre Seele, „den durch Zweifel domestizierten Glauben an etwas Transzendentes im Bewusstsein, dass Glauben kein sicheres Wissen vermittelt“. Im Westen ist heute, als Diagnose ein Allgemeinplatz, Konsum zur falsch verstandenen Ersatzreligion geworden. Die kapitalistische Wirtschaftsweise produziere unentwegt Bedürfnisse, deren Erfüllung wir mit Authentizität verwechselten, führt Bauer aus. Unsere (vermeintliche) Identität ist für ihn eine käufliche geworden. Als Kulturwesen seien wir nie im Reinen mit uns. Wohl aber ist es in der verqueren, von Bauer gegeißelten heutigen Sichtweise vieler, wer seine natürlichen Bedürfnisse stillt. Konsum geht in dieser Sicht vor Kultur. Auf knappsten Raum liefert Bauer hier en passant eine Erklärung für das Phänomen demonstrativ zur Schau gestellter Kulturlosigkeit heute.

Dabei ist Kultur Inbegriff des Mehrdeutigen – was letztlich ihre Qualität ausmacht. In seinem Schnelldurchlauf durch die moderne Kunstgeschichte vertritt er die These, dass die Kultur ihre Ambiguität immer mehr aufgegeben habe. Angefangen von Schönbergs Zwölftonmusik mit ihrer mathematischen Eindeutigkeit über den vom CIA in den 50ern heimlich protegierten Abstrakten Expressionismus amerikanischer Prägung à la Pollock (und dessen gelebter Bedeutungslosigkeit, die für Bauer gleichbedeutend ist mit einer „Eindeutigkeit am Pol der Gleichgültigkeit“) bis zur Verherrlichung von Konventionsbrüchen in der Kunst heute.

Ob in Politik, Sexualität oder Technik: Überall macht Bauer den Versuch aus, in einer faktisch höchst uneindeutigen Welt im Sinne des „heutigen Erklärungs- und Verstehenswahns“ krampfhaft Eindeutigkeit herzustellen. Auch wenn man nicht jedem Gedanken Bauers folgen muss -Anregungen zur Zeitdiagnose liefert er in seiner Abhandlung wider die Versimplung der Welt zuhauf.

Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam, 104 S., 6 €.

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