Lesungen „Wie ein fucking ausjeblasenes Hühnerei“ in des Schicksals Hand

Blieskastel · Hier New Yorker Lebensprüfungen, da Saarbrücker Jugendjahre: Beim Literaturfestival „erLesen!“ las Chris Kraus in der Blieskasteler Orangerie.

Im Rahmen der Literaturtage „erLesen!“ stellte am Freitag Chris Kraus seinen im New York der 90er spielenden Roman „Sommerfrauen, Winterfrauen“ vor. Auf Einladung der Gollenstein-Buchhandlung las er in der gut besuchten Blieskasteler Orangerie. Chris Kraus, 1963 in Göttingen geboren und heute in Berlin lebend, ist Regisseur und Autor. Sein Film „Vier Minuten“ mit Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung gewann 2007 den Deutschen Filmpreis. Seine Tragikomödie „Die Blumen von gestern“ mit Lars Eidinger wurde mehrfach prämiert.

 In Blieskastel erwähnt Kraus, dass er ab der vierten Klasse vier Jahre in Saarbrücken zur Schule ging. Alles, aber auch alles habe er von der Regielegende Rosa von Praunheim gelernt, erklärt Kraus. Vor allem, auf Schutz zu verzichten, um an die eigenen Grenzen zu kommen. Sein Romanheld und Alter Ego Jonas Rosen reist in „Sommerfrauen, Winterfrauen“ nach New York, wo die Filmklasse von Professor Lila von Dornbusch Filme über Sex drehen soll. Kraus spricht es zu Beginn seiner Lesung tatsächlich zehn mal und mit gebotenem Furor aus: „Ich drehe keinen Nazischeiß!“ Und doch ist es genau das, was seine Hauptfigur umtreibt – verfolgt von „Tante Paula“, einer Holocaust-Überlebenden, die eine Beziehung mit Jonas’ Großvater eingegangen war. Eine Art Prüfung: Will er mehr erfahren, als er schon weiß, nämlich dass der geliebte Opa ein SS-Mann, ein Kriegsverbrecher war?

 „Sommerfrauen, Winterfrauen“, das sind Begriffe, mit denen Jonas’ daheimgebliebene Freundin Mah die weibliche Welt in zwei übersichtliche Erscheinungsformen aufteilt: die Sommerfrau „gewohnt, dass ihre Träume wichtig sind“; die Winterfrau „in einer gewissen Genügsamkeit dem Wetter gegenüber aufgewachsen.“ New York rüttelt und zerrt an dem jungen Mann, zuletzt sogar in Form eines zerstörerischen Hurrikans. Er wird geprüft und verführt, abgestoßen und angezogen, fühlt sich gefährdet und bereichert. Auch von Nele, der Frau vom Goethe-Institut. Es gibt kaum etwas, worüber dieser kluge und humorvolle Roman im Tagebuchstil nicht feinsinnig nachdenkt. Kraus/Rosen beobachtet kalt und liebevoll zugleich, er sieht das Uneindeutige, reflektiert. Die Grenzgänger der 70er, die „Beatniks“ begegnen ihm tot oder lebendig (Allen Ginsberg, William Burroughs); bei Jeremiah zieht er ein, dieser verkörpert „in Perfektion die verwesenden Seventies“, innerlich verfaulend an „gekenterten Visionen.“ Jonas verurteilt ihn als „hedonistischen, unpolitischen Linken, der nicht akzeptieren kann, dass seine Zeit vorbei ist.“ Dem vermüllten Dreckloch entkommen, vermisst er ihn, erkennt die Würde im Elend.

Die ganze Wahrheit ist immer viel komplizierter, die Liebe oft der Schlüssel und dazu noch Schicksal, in dessen Hand man „wie ein fucking ausjeblasenes Hühnerei“ liegt, so Tante Paula, während sie dem staunenden Jonas im baltischen Tonfall offenbart, dass der „degoutante Nazischeiß – Jüdin liebt ihren Folterer“ so gar nicht funktioniert und sie ihn belehrt, dass die Version von ihm, die in Lebensfragen „umjekehrt entschejden würde, im gleichen kaputten Kübel“ sitze.

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