Buchkritik: „Auf dem Seil“ von Terézia Mora „Aus uns kann noch alles werden“

Saarbrücken · Terézia Mora beendet mit „Auf dem Seil“ ihre Trilogie über den Ex-IT-Spezialisten Darius Kopp. Weniger der Plot, vielmehr das Spiel zwischen Autorin und Hauptfigur macht die Klasse des Romans aus.

 Die ungarische Schriftstellerin Terézia Mora.   Foto: Uwe Anspach/dpa

Die ungarische Schriftstellerin Terézia Mora. Foto: Uwe Anspach/dpa

Foto: dpa/Uwe Anspach

20 Jahre sind vergangen, seit Terézia Mora mit ihrem hinreißenden Erzählband „Seltsame Materie“ debütierte und für einen Auszug daraus damals gleich mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis bedacht wurde. Seither hat die gebürtige Ungarin Mora, die seit 1990 in Berlin lebt, mehrere Romane nachgelegt und gilt nicht erst seit dem ihr im vergangenen Jahr zuerkannten Büchner-Preis inzwischen zu Recht als eine der profiliertesten deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen. Für einen dieser Romane – den unter dem Titel „Das Ungeheuer“ erschienenen zweiten Teil einer um den krisengeschüttelten, nach und nach aus allen Netzwerken herausfallenden IT-Spezialisten Darius Kopp kreisenden Trilogie – erhielt Mora 2013 den Deutschen Buchpreis. Nun ist mit „Auf dem Seil“ der finale Band der Lebensgeschichte Kopps erschienen, der sich – um dies gleich zu sagen – auch ohne intime Kenntnis der beiden anderen, ihm gewidmeten Romane mit Gewinn lesen lässt.

Einmal mehr gelingt Mora ein äußerst bemerkenswertes Stück Literatur. Zu Beginn des Romans ist Kopp mit der Urne seiner freiwillig aus dem Leben geschiedenen Frau (nach einer in „Das Ungeheuer“ geschilderten Reise durch mehrere europäische Länder) drei Jahre später in Sizilien angekommen, wo er die Asche seiner geliebten Flora schließlich auf dem Ätna unter einem Baum verstreut hat. In Catania verdingt sich Kopp, inzwischen fast 50, als Pizzabäcker und hat alle Fäden in sein früheres Leben gekappt. „Es ist etwas Mönchisches in mein Leben gekommen, das ich nie vermutet hätte“, liest man schon auf den ersten Seiten. Erstaunlich eigentlich, dass die Figur dieses melancholischen Witwers, der mal ein einigermaßen erfolgreicher ITler war, längst aber von beruflicher Karriere nichts mehr wissen will, drei dicke Romane trägt. Dass sie es tut, hat vor allem einen Grund: Terézia Moras den Leser immer wieder gefangen nehmende Erzählhaltung.

Diese wechselt, nicht selten mitten im Satz, von der Ich- in die auktoriale Perspektive und umgekehrt. Das ist, auch über mehrere hundert Seiten hinweg, weit mehr als eine literarische Attitüde oder bloße Spielerei – es ist vielmehr das erzählerische Elixier dieses Romans und seine stilistische Fracht. Gelingt es Mora dadurch doch, nicht allein Kopp zu einem aus den Lettern und Sätzen heraussteigenden Menschen aus Fleisch und Blut zu machen, wie man das in dieser Prägnanz und Plausibilität selten liest. Die Autorin vermag mittels dieses raffinierten erzählerischen Schachzuges auch Kopps Umgebung situativ eine Unmittelbarkeit zu verleihen, die die lebenslängliche Komplexität des Zusammenspiels von persönlicher Wahrnehmung und charakterlicher Prägung kongenial abbildet. Kopp fällt sich und seiner Schöpferin Mora (und die wiederum ihm) quasi immer wieder mal ins Wort, sodass der innere Monolog sich immer wieder zum Zwiegespräch ausweitet. Und sei es in der simplen Art: „Du solltest ihn anrufen. Ja, das sollte ich.“

Dabei hat die Geschichte, die „Auf dem Seil“ erzählt, für sich genommen eigentlich gar nicht so viel Potenzial: Kopp, der sich in Catania in einem überschaubaren, von viel Zurückgezogenheit und Naturanschauung geprägten Leben eingerichtet hat, wird eines Tages in Sizilien von seiner schwangeren 17-jährigen Nichte Lorelei heimgesucht. Schnell fühlt er sich verantwortlich für die antriebslose, fast nichts essende Lorelei und begleitet sie schließlich zurück nach Berlin – der Stadt, in der er sich einst als Netzwerker etabliert hatte, um ihr und seinem absehbaren, vorgezeichneten Weg dann zu entfliehen. In beider Schlepptau: Metin, Kopps palästinensischer Freund aus Catania, der Lorelei immer näher kommt. So mittellos, wie Mora ihr Trio von Air­bnb-Unterschlupf zu verkrachten, alten Kopp-Freunden wochenweise durch Berlin ziehen lässt, wächst sich der letzte Teil der Kopp-Trilogie dann zuletzt immer mehr zu einer Art prekären Hauptstadt-Milieustudie aus. „Waren die Erwartungen unrealistisch, oder sind wir einfach nur eine Gruppe von Losern, die sich gefunden haben? War es etwa unser latentes Losertum, das uns zu Freunden machte?“ Kopp, dieser „Zeitmillionär“ und „Fettwanst mit Halbglatze“, wird am Ende versuchen, wieder irgendwie ins bürgerliche deutsche Leben zurückzufinden. „Du kannst dir eine Zukunft vorstellen, das ist gut. Dass etwas anderes da ist als nur Vergangenheit und Gegenwart. Ich spüre, wie das gut ist.“ Der Systemaussteiger Kopp, der herausgefallen war aus diesem ebenso betäubenden wie ermüdenden „Hinundhergehen mit Handys und Einkaufstüten“, scheint zuletzt wieder seinen Frieden mit dem System zu finden. Kopps Freund wird es zuletzt so zusammenfassen: „Wir sind 50, sagte Rolf. Aus uns kann noch alles werden.“

Kurzum: Es ist nicht der Plot, der einen einnimmt für Moras jüngsten Roman. Es ist der Furor dieses gewieften Pingpongspiels zwischen Autorin und Hauptfigur, der seine literarische Klasse ausmacht.

 Terézia Mora „Auf dem Seil“

Terézia Mora „Auf dem Seil“

Foto: Screenshot

Terézia Mora: Auf dem Seil. Luchterhand. 360 Seiten, 24 Euro.

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