Blick ins Herz der Finsternis

Dresden · Der Lyriker und Romancier Marcel Beyer (50) nimmt morgen in Darmstadt den Georg-Büchner-Preis 2016 entgegen. Die mit 50 000 Euro dotierte Auszeichnung gilt als wichtigste literarische Ehrung in Deutschland. Ein Blick auf Beyers Werk und auf das, was ihn antreibt.

 Marcel Beyer, den die Jury des Büchner-Preises für seine „poetische Mikroskopie“ lobt. Foto: Popp/dpa

Marcel Beyer, den die Jury des Büchner-Preises für seine „poetische Mikroskopie“ lobt. Foto: Popp/dpa

Foto: Popp/dpa

Im Dresdener Stadtteil Strehlen lebt Marcel Beyer, in einer Altbauwohnung, an deren hohen Wänden imposante Bücher- und vor allem Schallplattenregale lehnen. Diese Sammlung enthält Schätze, Reggae- und Dub-Alben aus den 80er Jahren, israelische Sängerinnen aus den 70ern, das Gesamtwerk von The KLF, Prince oder Pere Ubu, Jazz und Funk, Raritäten aus Afrika. Man bräuchte Jahre, um sich durch diese Soundwelten zu hören.

Die Musikleidenschaft verrät etwas über die Sozialisation des diesjährigen Büchner-Preisträgers, der 1965 im baden-württembergischen Tailfingen geboren wurde, in Kiel und in Neuss aufwuchs: "Man ging los in den Plattenladen und kaufte Schallplatten", sagt Beyer, "und man ging in den Buchladen und kaufte Merve." Avancierte Musik und Theorie, das waren die Grundnahrungsmittel für einige, die in den 80er Jahren intellektuell das Laufen lernten und schließlich zu Schriftstellern wurden. Verfahrensweisen elektronischer Musik fanden ganz automatisch Eingang ins Denken und ins Schreiben.

Daneben gab es aber von Anfang an die Literatur, Autoren, die eher selten in akademischen Lehrplänen auftauchten: William S. Burroughs, Michel Leiris, Georges Perec, Claude Simon, Thomas Kling - Leuchttürme für Beyer. Besonders hell leuchteten die Bücher Friederike Mayröckers. Beyer, damals Student in Siegen, lernte die Autorin Ende der 80er Jahre persönlich kennen. "Ich habe damals gemerkt, dass absolute Kompromisslosigkeit in Sachen der Kunst durchaus bestehen kann neben einer sehr freundlichen, offenen Hinwendung zur Welt und den Menschen. Das hat mich beeindruckt. Für mich ist das bis heute eine Sache der Lebenshaltung."

Beyer legte den Grundstock für das Friederike-Mayröcker-Archiv; zeitgleich begann er mit der Arbeit am Roman "Das Menschenfleisch". Der Lyriker, der sich zuvor nicht vorstellen konnte, Prosa zu schreiben, wurde von den Rhythmen des Dub, der Cut-up-Methode Burroughs‘ und den sprachspielerischen Texten Mayröckers angetrieben. "Ich liebe es bis heute", sagt Beyer, "morgens ein Buch von Friederike Mayröcker aufzumachen und den ganzen Tag nur so da durchzuschwimmen. Das ist so ein Durchpusten und ein Mutmachen."

Der Durchbruch kam 1995 mit "Flughunde". Mit diesem in viele Sprachen übersetzten Roman hatte Beyer einen eigenen, kühlen Ton gefunden, mit dem er ins Herz der Finsternis der deutschen Geschichte vordringen konnte. Er verarbeitet darin Medientheorie, verknüpft die Erkundung grausamer Medizinexperimente mit dem Schicksal der Goebbels-Kinder, zeigt eindringlich, wie man als Nachgeborener an Vergangenes erinnern kann. Auch die Romane "Spione" oder "Kaltenburg" setzen sich mit deutscher Historie auseinander, auch seine Gedichte und Essays. Mit dem Lyrikband "Erdkunde" etwa bewegte sich Beyer tief hinein in historische Räume und die Landschaften des Ostens; das war nicht zuletzt das Ergebnis seiner regen Reisetätigkeit und seines Umzugs nach Dresden Mitte der 90er Jahre.

Dresden hat Spuren hinterlassen in seinen Büchern. "Dresden als erzählte Stadt war seit 1945 immer eine unter bestimmten ideologischen Prämissen erzählte Stadt. Und dann musste sie nach 1990 erst so langsam zu einer neuen Erzählung finden." Nach der Fertigstellung der Frauenkirche hatte Beyer das Gefühl, "dass die Erzählung homogen wird, dass es grunzfade ist, dass man in einem Kunstreiseführer lebt". Doch dann merkte er, "dass es irgendwann zu knirschen anfing und auf einmal mit den Pegida-Demonstrationen knallte. Plötzlich fliegen wieder die Trümmer durch die Luft, und man weiß nicht, wohin sich diese Stadt bewegt." Im Moment wohl in eine fatale Richtung. "Seit Pegida bekommt man alltagsrassistische Bemerkungen zu hören. Das hat mich in der Vehemenz erschreckt. Aber dass es passieren würde, war nicht sehr verwunderlich."

Die Verwunderung aber, das Fragwürdige, die Unabgeschlossenheit geschichtlicher Prozesse ist Teil dieses mit vielen bedeutenden Ehrungen bedachten Werks. Beyer, der in seinen Gedichten, Romanen und Essays eine flirrende Verbindung von Ost und West, von Gegenwart und Vergangenheit, von Alltagserscheinungen und großer Geschichte, Sub- und Hochkultur schafft, wird nun mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes, dem Georg-Büchner-Preis, ausgezeichnet.

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