Auch Thomas Manns Sehnsuchtsland

Saarbrücken · Litauen ist Gastland der gestern eröffneten Leipziger Buchmesse. Ein Blick auf seine Geschichte und Bücher von dort.

 Litauens Hauptstadt Vilnius, die einst als „litauisches Jerusalem“ galt. 2009 war sie die Kulturhauptstadt Europas. Foto: dpa

Litauens Hauptstadt Vilnius, die einst als „litauisches Jerusalem“ galt. 2009 war sie die Kulturhauptstadt Europas. Foto: dpa

Foto: dpa

Litauen, Gast der Leipziger Buchmesse, war ein offenes Land, Toleranz selbstverständlich. Ritter des Deutschen Ordens durften sich vor rund 600 Jahren ansiedeln, aber ohne Waffen. Juden waren willkommen, Christen gleich welcher Konfession ebenso. Sie durften ihre Religion ausüben, jedoch nicht missionieren. Die Hauptstadt Vilnius galt als litauisches Jerusalem. Am Ostra Brama, dem Tor der Morgenröte, wurden erschöpfte Zugewanderte, die Schutz suchten, empfangen. Viele blieben und wurden Litauer.

Als immer mehr Russen von Osten her eindrängten, kam es zu Verwerfungen. Nach Lenins Revolution 1917 und am schlimmsten unter Stalin legte sich die Angst wie eine dunkle Wolke über das Land. Noch mehr setzten die Nazis den Menschen zu, bald nach Kriegsbeginn war der Terror allgegenwärtig. "Es schleichen / Drohung und Stahl mitten / durchs Herz von Europa", wie der Dichter Henrykas Nagys diese Zeit im Baltikum beschrieb.

Litauen, ein Satellitenstaat der Sowjets, seit 1990 unabhängig, hat knapp drei Millionen Einwohner. Die Literatur, vor allem die Poesie, hat in dem Land eine weit zurückreichende Tradition. In Leipzig werden nun anlässlich der Buchmesse mehrere litauische Autoren auftreten. Die Direktorin des Litauischen Kulturinstituts in Vilnius, Ausrine Zillinskiene, reist mit 26 Büchern an; bis zu vier Bücher werden pro Jahr ins Deutsche übersetzt. Für die Autoren ist das wichtig, auch finanziell, kaum einer kann vom Schreiben leben. Bei der Messe und rund 50 Veranstaltungen können sie ihr literarisches Talent zeigen. Eine seltene Gelegenheit. Das Litauische gehört zu den Sprachen, die sich im Laufe der Jahrhunderte nur minimal veränderten. Es hat keine Ähnlichkeit mit den slawischen Sprachen in den Ländern ringsumher. Litauen ist umgeben von der russischen Oblast Kaliningrad, Weißrussland, Lettland und Polen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Litauen das Land, das am erbittersten gegen die sowjetische Annexion kämpfte. Die Partisanen, "Waldbrüder" genannt, versteckten sich in den Wäldern, der letzte von ihnen wurde 1965 exekutiert. Im Krieg hatten die Nazis die Juden, 30 Prozent der Bevölkerung, fast komplett ausgerottet. Bei Massenerschießungen verloren 200 000 litauische Juden ihr Leben. Das Trauma hält noch an, die meisten litauischen Familien mussten Opfer beklagen. Erst seit der Unabhängigkeit findet eine historische Aufarbeitung der Untaten statt - und eine literarische: Laurinus Katkus' "Moskauer Pelmeni" (Leipziger Literaturverlag, 120 Seiten, 12,95 €) erzählt von einer Jugend unter russischer Vorherrschaft und dem Gefühl der Freiheit nach dem Abzug der Russen und der Entwicklung einer neuen Identität.

Giedra Radvilaviciute erinnert sich in im Roman "Der lange Spaziergang auf einer kurzen Mole" (Corso, 144 S., 19 €) an Unrechttaten in der Besatzungszeit und der erschreckenden Empfindung, "dass ein Mensch früher zu leben aufhört, als er stirbt". Eugenijus Alisanka, mit seinen Eltern nach Sibirien verbannt, berichtet autobiografisch und in großartiger Sprache in "Risse", einem Essayband (Klak, 272 Seiten, 16,90 €), von der Demütigung. Die Kunsthistorikerin Undiné Radzeviciute beschreibt in "Fische und Drachen" (Residenz, 400 Seiten, 24 €), was Okkupation, Repression und Patriotismus bei Menschen anrichten. Eine wunderbare Geschichte, in mehrere Sprachen übersetzt.

Die litauische ist mit der deutschen Literatur verbunden, ein Teil des Landes gehörte einige Zeit zu Preußen. Johannes Bobrowski, ein poetisches Schwergewicht, kam aus Willkischken, heute Vilkyskiai. Dort, mitten in der Provinz, haben die Litauer ein Bobrowski-Museum eingerichtet. In Nida auf der Kurischen Nehrung verbrachte Thomas Mann drei Sommer, das Haus - heute musealisiert - erwarb er, nachdem er den Literaturnobelpreis erhalten hatte. Für ihn und Bobrowski war Litauen ein Sehnsuchtsland.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort