Literatur Alles sehen wie zum ersten Mal

Saarbrücken · Peter Handkes neues Buch „Die Obstdiebin“ soll ein Roman sein, ist aber eher eine Meditation. Handke frönt darin einer Sprach- und Verschmelzungsekstase, übertreibt es jedoch zuweilen mit seinem literarischen Pathos.

 Der Einsamkeitsmelancholiker der deutschen Literatur: Peter Handke. 

Der Einsamkeitsmelancholiker der deutschen Literatur: Peter Handke. 

Foto: dpa/Barbara Gindl

Gibt es das, dass auf einmal ein Ruck durch das Leben eines Menschen geht – und er daraufhin die Welt anders sieht? So wie ein unschuldiges Kind, das mit reinen Blicken auf alles um sich herumschaut. Das dieses und jenes in der Natur und im Umgang der Menschen betrachtet, sich wundert, staunt. Das Episoden und große Momente erlebt und wie sie auf einmal alle zusammenkommen, harmonisch, völlig überzeugend – die Welt als individuelle Erfahrung.

Peter Handke, der am 6. Dezember 75 wird, versucht das seit 40 Jahren. Dem Schamanen unter den Schriftstellern deutscher Sprache geht es um das „reine“ Erzählen. Ob sein Verlag das neue Buch „Die Obstdiebin“ als Roman bezeichnet, das interessiert Handke nicht. Er will ein Magier sein, die Welt anders erfassen, den Menschen anders beschreiben als andere, die Endlichkeit mit der Ewigkeit versöhnen, das unaussprechliche Geheimnis des Menschseins finden. Darum nun sein „letztes Epos“, wie er es nennt.

Dabei beschreibt er sehr realistische Dinge. Sein verwunschenes Sandsteinhaus nahe Paris, Spaziergänge und Wanderungen, seine Gedanken über die Zeit, als er ein junger rebellischer Mann war, und seine Altersbeschwerden heute. Zwar gibt es einen namenlosen Ich-Erzähler, aber es ist immer klar, dass es sich um den Autor handelt, zumal er gleich am Anfang über das Erzählen schreibt – und sich zugleich in der „Druckwelle einer weltweiten Katastrophe“ weiß. Europäische Flüchtlingscamps tauchen auf, die islamistischen Anschläge in Frankreich, der Terror weltweit, der abgrundtiefe Hass. Beim Pilzesuchen in der Picardie, wo er seit kurzem ein zweites Haus hat, beim Gehen durch die Wälder und auf Reisen reflektiert Handke unsere Epoche. Und erfindet die Obstdiebin Alexia und ihre „Einfache Fahrt ins Landesinnere“.

Alexia ist eine attraktive junge Frau, sie erregt Aufmerksamkeit und fühlt sich als „Auserwählte unter den Frauen“. Sie geht nicht nur durch die Landschaft der Picardie und stiehlt Obst von den Bäumen. Sie kommt von weither, aus Sibirien, vom Ufer des Jenissej, aus einem anderen Zeitraum. Sie ist eine Erleuchtete, aber der Autor nimmt das viel ernster als seine Figur. Handke macht aus der Sprache eine Epiphanie, er schüttet Gesänge, Gebete und Predigten. Er übertreibt es, ist zu pathetisch, bringt Floskeln und fällt sich bei manchen seiner Gedanken selbst ins Wort, womit er seine Unsicherheit in existenziellen Fragen ausstellt.

Alexia soll kein Geistwesen, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut sein. Sie sucht „das Wirkliche an der Wirklichkeit“, will es einfangen, festhalten. Hornissen gibt es, Kröten, Schlangen und allerlei Pflanzen. „Wie streckte jetzt das Land in Gestalt der Silhouetten der Hasel- und Holunderzweige, der Eschen- und Robinienfächer am Gleisrand, schwarz ausgeschnitten tief unten, weit weg von dem Himmelblau- geschenkt! – mir, einem, uns ihre Buketts als ein ganz anderes Willkomm entgegen.“ Ein Autor in Sprach- und Verschmelzungsekstase.

Dem reinen Anschauen wird gehuldigt. „In dem klaren Vorabendlicht sah ich die Obstdiebin in die Weite, dabei wie nahe gerückt, über das Vexinplateau gehen“, heißt es. Drei Tage ist sie unterwegs, verfolgt von ihrem Schöpfer. Ihre Begegnungen und Abenteuer zielen auf Visionen, die mehr von der Wirklichkeit preisgeben. Auf ihrem Gang findet Alexia ein Kätzchen, beobachtet aber gleich danach einen Menschen, der um sein Leben rennt. „Und was jetzt?“ Alles soll zusammengeführt werden, aber das ist schwer.

In einer Notiz heißt es: „Wie lange man braucht, die SEINEN zu finden; welch weiter Weg.“ Peter Handke kommt uns wieder verrätselt mit diesem Buch, aber er gibt mehr von sich preis, dem Einsamkeitsmelancholiker. Irgendwie ist das schon ein Alterswerk.

Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere. Suhrkamp, 559 S., 34 €

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