DEFA-Langzeitdokumentation 43 Stunden Material über DDR-Schicksale vor und nach der Wende

Saarbrücken · „Die Kinder von Golzow“ gilt als älteste Langzeit-Dokumentation der Filmgeschichte. Im Saarbrücker Kino achteinhalb waren die Regisseure zu Gast.

 Das Regisseur-Ehepaar Winfried und Barbara Junge mit Waldemar Spallek (rechts) im Gespräch mit dem Kino-Publikum.

Das Regisseur-Ehepaar Winfried und Barbara Junge mit Waldemar Spallek (rechts) im Gespräch mit dem Kino-Publikum.

Foto: Kerstin Krämer

1961, der Mauerbau hat gerade begonnen. Da startet  bei der Ostberliner Deutsche Film AG (DEFA) ein ganz anderes Projekt, das ebenfalls Geschichte schreiben wird: „Die Kinder von Golzow“ gilt mit ihren 20 Filmen über 43 Stunden Laufzeit, zusammengeschnitten aus mehr als 70 Kilometer Film, als die älteste Langzeit-Dokumentation der internationalen Filmgeschichte.

Fast 50 Jahre lang, von 1961 bis 2007, begleitet die Chronik DDR-Grundschüler der Jahrgänge 1953 bis 1955 ab ihrem ersten Schultag mit der Kamera. 18 ABC-Schützen werden als Kinder gezeigt, als heranwachsende Jugendliche und als Erwachsene, wenn sie selbst Eltern geworden sind. Die Idee zu dem Mammutprojekt stammte von dem Filmemacher Karl Gass, der das Genre Dokumentarfilm bei der DEFA seit den 1950er Jahren entscheidend geprägt hatte. Durchgeführt wurde es von Winfried Junge, der zuvor als Dramaturgie- und Regieassistent von Karl Gass gearbeitet hatte und zu Beginn der Dreharbeiten 25 Jahre alt war. In den 1980ern kam seine Frau Barbara als Cutterin und später auch Co-Regisseurin hinzu.

Die Wahl des Ortes fiel auf Golzow: ein kleines Nest im brandenburgischen Oderbruch, das 1961 eine neue Schule bekommen hatte, in der die Schüler bis zur zehnten Klasse zusammen bleiben konnten – optimale Ausgangs-Bedingung für diese Langzeitstudie, die auf unaufgeregte Weise spektakulär ist. Erzählt sie doch das Leben einer ganzen Generation, indem sie nicht nur bewegende Einzelschicksale porträtiert, sondern auch den Alltag im Sozialismus und die Zeit nach der Wende schildert.

„Man kann die DDR rückblickend nicht kennen lernen, ohne diese Dokumentation gesehen zu haben“, befand denn auch Waldemar Spallek vom Kino achteinhalb. Dort stellten sich Barbara und Winfried Junge am Freitag und Samstag in einer Filmwerkstatt in Kooperation mit der Hochschule der Bildenden Künste Saar (HBK) dem Gespräch mit dem Publikum – aktuell sind die beiden Filmemacher Gastdozenten an der HBK. Zusammen mit den Studenten hatte das Paar für beide Abende jeweils unterschiedliche Folgen der Chronik ausgewählt, die im Laufe der Jahre immer länger wurden – am Freitag brauchte man Sitzfleisch bis kurz vor Mitternacht. Zum Auftakt lief der mit 14 Minuten recht kurze Erstling „Wenn ich erst zur Schule gehe“ (1961), der in seinem Bemühen um poetische Bilder eher wie ein Spielfilm anmutet und den Winfried Junge heute als „brav, altbacken und eiapopeia“ bezeichnet. Die zehn Jahre später entstandene Folge über die Abschlussprüfung, ebenfalls noch in Schwarzweiß, lässt in ihrer schlichten Montage von Beobachtungen schon eine prägnantere Handschrift erkennen, an der Junge in den folgenden Farb-Porträts weiter feilen sollte.

Schlucken musste man schließlich beim 1999 auf der Berlinale vorgestellten Doppelporträt „Brigitte und Marcel“, das einen Zeitraum von 1961 bis 1998 abdeckt und brüchige Biographien skizziert. Da ist Brigitte, die nach der achten Klasse abgeht, mit 17 ein uneheliches Kind zur Welt bringt, trotz Krankheit hart arbeitet, um ihr Kind durchzubringen, und bereits mit Ende 20 an Herzversagen stirbt. Und da ist ihr Sohn Marcel, Legastheniker, der allen Widrigkeiten zum Trotz seine Schlosserlehre packt, sich dann jedoch als Wende-Verlierer auf dem Schrottplatz durchschlagen muss und dem das Schicksal außerdem ein behindertes Kind aufbürdet.

Wenn allein 110 Minuten darüber dem Publikum so an die Nieren gehen – wie mag es dann erst den beiden Filmemachern ergangen sein, die diese und andere Menschen teils über fast ein halbes Jahrhundert begleitet haben? Um die Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Vertrauen und Voyeurismus, Scham und Stolz ging‘s denn auch in der anschließenden Diskussion. „Man wird zum Schweinehund in dem Beruf“, lautet Junges hartes Fazit: „Man zeigt‘s halt, obwohl man merkt, dass sich die Betroffenen nicht wohl damit fühlen.“ Nicht alle waren gewillt, ihr Leben mit all seinen Brüchen dauerhaft öffentlich auszubreiten: Während einige Teilnehmer ihre bescheidene Berühmtheit dennoch genossen, brachen andere wie Marcel im Laufe des Projekts den Kontakt ab und beschlossen, trotz Aufwandsentschädigung und Mitspracherechts am Schneidetisch auszusteigen.

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