Moral, wir brauchen dir

Der Plot klingt nach sozialem Rührstück: Deutsche Urlauberin wird auf Gran Canaria mit senegalesischen Boat-People konfrontiert und versucht einem Überlebenden und dessen Jungen zu helfen

Der Plot klingt nach sozialem Rührstück: Deutsche Urlauberin wird auf Gran Canaria mit senegalesischen Boat-People konfrontiert und versucht einem Überlebenden und dessen Jungen zu helfen. Weil Migrantenschicksale, wie Aki Kaurismäkis "Le Havre" gezeigt hat, mehr berühren, wenn Kinder betroffen sind? Doch Maggi Perens "Die Farbe des Ozeans", der in Toronto, Hof, Zürich und München lief, wo er den Bernhard-Wicki-Nachwuchspreis erhielt, ist dann viel besser als erwartet. Wie ihr Film, dessen Drehbuch sie auch schrieb, drei Paar-Geschichten (die des Flüchtlings Zola und seines Jungen Mamadou, die der Urlauberin Natalie und ihres Mannes, die des Polizisten José und seiner Schwester) parallel entwickelt, um sie Stück um Stück ineinander laufen zu lassen, das ist (ungeachtet mancher Klischees und unnötiger Zuspitzungen) dramaturgisch nicht nur gekonnt und gut besetzt. Sondern Peren und findet auch eindrückliche Bilder und veranschaulicht, dass Empathie die stabilste Währung ist, die wir haben. So ist denn auch die interessanteste Figur José, der für die Migranten ebenso wenig Mitgefühl hat wie für seine heroinsüchtige Schwester, ehe er eine späte Läuterung erfährt. Am Freitag erhalten Perens Produzenten Boris Jendreyko und Thomas Klimmer in München für ihre erste Kinoproduktion den Nachwuchsproduzentenpreis der Filmrechte-Verwertungsgesellschaft VGF, dotiert mit 60 000 Euro - Förderung at its best.Di 11 Uhr: CS1; Mi 19 Uhr: CS4; Do 12 Uhr: CS 4; So 18 Uhr: CS 3.

Ein weiterer Film, der (bei Nachwuchsfilmen keine Selbstverständlichkeit) ein tragendes Thema hat und es konsequent verfolgt, ist Kirsi Marie Liimatainens "Festung". Ohne ins Plakative abzugleiten, zeigt sie, dass familiäre Gewalt durch die gedeckt wird, die sie erleiden: in dem Fall eine Mutter und ihre drei Kinder (25, 13, 6). Liimatainen erzählt aus Sicht der 13-jährigen Johanna (ein Talent: Elisa Essig) vom quälenden Hin- und Hergerissensein zwischen Auflehnung und Unterordnung, Resignation und Hoffnung. Und davon, dass Johannas Loyalität mit dem Vater (gepaart mit antrainierten Verleugnungsreflexen) so weit reicht, ihre erste Liebe aufs Spiel zu setzen. Etwas konstruiert bleibt die Spiegelung ihres Lebens im Schicksal der Schwestern: In Moni (6) wiederholt sich Johannas Kindheit, während Claudia (25) vorwegnimmt, dass die Teufelskreisläufe in dieser Familien-Festung später unvermindert ihre Wirkung tun. Eine sehr genau beobachtende Familienstudie mit einer sehenswerten Ursina Lardi als verängstigte, durch Erniedrigung gebrochene Mutter und Peter Lohmeyer als hoch explosivem Vater.

Di 22.15 Uhr: CS 3; Do 14 Uhr: CS 1; Fr 10 Uhr: CS 4; So 22: FH.

Originell ist die Grundidee von Uta Arnings in Japan spielendem surrealistischen Film-Poem "Snowchild", eine Reihe Lebensmüder in einem auf einer Klippe stehenden einsamen Hotel zu versammeln. Doch so sehr sich der vorzugsweise in düsteres Blau getauchte Film müht, aus der Kopplung mit einem dort als Korrektiv angesiedelten "Amt für Selbstmordprävention" dramaturgisches Kapital zu schlagen, scheitert er. Arning verknüpft vier, teils in Rückblenden erzählte Geschichten, ohne dass diese am Reißbrett entworfenen Figuren in glaubwürdige Beziehungen miteinander treten würden. Eher unentschlossen laviert dieser Film zwischen Skurrilität und Etüden der Stille hin und her.

Di 19.45 Uhr: CS 3; Mi 14 Uhr: CS 1; Do 10.30 Uhr: FH; So 20.30 Uhr: CS 2.

Pascal Verdoscis, ganz von Klaus-Maria Brandauers und Sebastian Kochs schauspielerischem Furor getragenes Kammerspiel "Manipulation" fußt auf Walter Matthias Diggelmanns Roman "Das Verhör des Harry Wind" (1962) - der Aufarbeitung eines schweizerischen Skandal-Kapitels aus der Zeit des Kalten Krieges. Um 1956 ihre Atomwaffenpläne politisch durchzudrücken, erfand die Armeeführung einen spektakulären Spionagefall der Russen. Zugleich ließ man 600 000 Schweizer heimlich überwachen. "Manipulation" dekliniert in 90 spionagetrillerhaften Minuten sinnfällig durch, wie in den Schaltzentralen der Macht Wahrheiten erfunden und gestreut werden. Das ist die Lektion, die der versierte Kommissar und treue Staatsbeamte Rappold (Brandauer in Hochform) in der Begegnung mit seinem windigen Gegenspieler, PR-Berater und Armee-Einflüsterer Harry Wind, zu lernen hat. Kamera, Schnitt, Musik treiben die Dramatisierung an und sind auf eine Weise orchestriert, die von äußerster Professionalität zeugt. Man sieht diesem vor einem Jahr in der Schweiz angelaufenen Film nicht an, dass seine Postproduktion alles andere als spannungsfrei verlief. Angeblich überwarfen sich Verdosci und Produzent Alex Martin, der mit Marion Reichert auch das Drehbuch schrieb. Heißt es im Vorspann darum, es sei "ein Film von Alex Martin"?

Di 19.30 Uhr: CS 1; Mi 16 Uhr: CS 4; Fr 12.30 Uhr: CS 4; So 13 Uhr: CS 4.

Michael schneidet dem zehnjährigen Wolfgang die Haare; er fährt mit ihm auch mal in den Streichelzoo; er macht ihm Wickel, wenn er fiebert; er schmückt mit ihm den Weihnachtsbaum - und er missbraucht ihn, wenn ihm danach ist, unten im Keller, wo er den Jungen gefangen hält. Markus Schleinzers vom Fall Kampusch inspiriertes Debüt "Michael", das es im Vorjahr bis nach Cannes schaffte, ist ein unerträglicher Film und will genau dies auch sein. Weil er mit den Mitteln eines schneidenden Realismus, der kein Monster-Ventil öffnet, keine Distanznahme erlaubt, kein Moral-Gericht eröffnet, einen Mann zeigt, der unser Nachbar sein könnte. Ein alleinstehender Spießer und Pedant, der einem ordentlichen Beruf nachgeht, sich nach jedem im Kalender vermerkten Missbrauch säuberlich sein Geschlecht wäscht und den Jungen wie ein sexuelles Maskottchen hält. Schleinzer zeigt die Alltäglichkeit eines Dauerverbrechens, dessen Ungeheuerlichkeit mehr und mehr ausgeblendet wird. Und man weiß nicht recht, ob dies nun eine Schwäche oder doch eine Stärke dieses Films ist.

Di 14 Uhr: CS 1; Mi 21 Uhr: CaZ 2; Do 22.15 Uhr: CS 4; So 10.30 Uhr: CS 4.

Extreme Wirklichkeitsnähe simuliert auch ein anderer Film, der an einem Tabu rührt und in seinem Erzählgestus Schleinzer ähnlich ganz auf Andeutungen setzt: Sebastian Meises "Stillleben" stellt die Schuldfrage eines Vaters, der seine päderastischen Neigungen dadurch kanalisiert, dass er eine Prostituierte die eigene (inzwischen erwachsene) Tochter spielen lässt. Oder sich am Anblick der alten Fotos der Heranwachsenden erregt, aus denen er seinen Sohn herausgeschnitten hat. Als sein Sohn hinter das väterliche Geheimnis kommt, offenbart er es und zerstört so die Familie. Meise zeigt, wie der Virus des Misstrauens sich ausbreitet und die Vergangenheit infiziert. Der Vater wird sich auf seine Weise richten, die Mutter die Fassade wahren wollen, die Kinder ihr Mitgefühl für den Vater nicht aufgeben. Man mag einwenden, dass die lange währende Sprachlosigkeit dieser Vier in dramaturgische Monotonie führt. Und doch durchlebt jede der Figuren eine subtile Veränderung, jede auf ihre Art. Dass Meise sie in langen Einstellungen an Fahrkartenautomaten und in Hausfluren ans Eingemachte gehen lässt, illustriert den ästhetischen Purismus dieses äußerst konsequenten Films.

Di 19.30 Uhr: CS 4; Mi 11 Uhr: CS 1; Fr 21 Uhr: CaZ 2; So 18 Uhr: CS 2.

Beachtlich ist, was Samuel Schwarz und Julian Grünthal in nur neun Drehtagen mit "Mary & Johnny" noch gelungen ist. Horváths "Kasimir und Karoline" stand Pate, den Plot transferierten sie allerdings in eine Zürcher Jahrmarktnacht zur Zeit der WM. Aus Kasimir wird Johnny, aus Karoline Mary. Erst verliert er seinen Job, dann sie, dann sie ihr Leben. Der Rest ist eine von Drogen, Vergnügungs-Drang und -Zwang, Frust und Suff angetriebene Die-Welt-ist-ein-Rummelplatz-Story. Doch geht dieser kleinen schmuddeligen Geschichte, die sich selber immerzu wie ein Karussell dreht und ihre Bilder etwas bemüht verwackeln und einfärben lässt, die Luft aus. Ihre Schwäche ist just das, was die Regisseure als ihren "dramaturgischen Kern" bezeichnen: das Nacherzählen dieser Nacht durch einen an deren Ende in den Knast wandernden Proll.

Di 22 Uhr: CS 1; Mi 13.30 Uhr: CS 4; Fr 20 Uhr: CS 4; So 10.30 Uhr: CS 1.

Jessica Krummachers "Totem" ist eine gezielte filmische Zumutung und dürfte noch mehr polarisieren als "Michael". Wir blicken in ein deutsches Reihenhaus-Familiengrab, dessen in Agonie gefallene Bewohner nurmehr Alltagsvegetierer sind. Die depressive Claudia sucht Trost bei zwei Babypuppen; ihre Kinder sind ihr egal. Der Vater schätzt die Treue von Bierflaschen und versorgt nur die Kaninchen. Um die eigene Lebensuntauglichkeit zu kaschieren, hält man sich eine Haushaltshilfe. Fiona (unerträglich gut: Marina Frenk) aber ist des Lebens genauso müde. Krummacher liebt es, dies stillstehende Leben in quälend langen Einstellungen auszustellen. Bisweilen gelingen ihr großartige Szenen (etwa wenn Fiola der auf der Solarbank wie in einem Sarg liegenden Claudia die Nägel pfeilt). Das Ausweglose filmisch zu wiederholen, ist auf Dauer dann aber doch zu wenig.

Di 22 Uhr: CS 4; Mi 19.30 Uhr: FH; Fr 10 Uhr: CS 1; So 13.15 Uhr: CS 3.

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