"Löhne müssen stärker steigen" DGB-Chef Sommer attackiert rigide Sparpolitik in Europa

Saarbrücken. Trillerpfeifen und Tröten, Plakate und Fahnen - die Kundgebung gestern in der Saarbrücker Innenstadt mit nach Schätzung des DGB Saar mehr als 4000 Teilnehmern hatte alles, was traditionell zum Tag der Arbeit dazugehört - bis hin zu den radikaleren Sprüchen wie "Kapitalismus abschaffen". Doch lag noch etwas mehr Kampfgeist in der Luft als in anderen Jahren

Saarbrücken. Trillerpfeifen und Tröten, Plakate und Fahnen - die Kundgebung gestern in der Saarbrücker Innenstadt mit nach Schätzung des DGB Saar mehr als 4000 Teilnehmern hatte alles, was traditionell zum Tag der Arbeit dazugehört - bis hin zu den radikaleren Sprüchen wie "Kapitalismus abschaffen". Doch lag noch etwas mehr Kampfgeist in der Luft als in anderen Jahren. Die Forderungen der aktuellen, großen Tarifrunden - etwa in der Metallbranche - brachten Farbe in den Demonstrationszug und in die Reden der Gewerkschafter genauso wie die Sorgen um die sozialen Folgen der Sparpolitik in Deutschland und Europa."Wenn unser starker Arm es will, stehen alle Räder still" - die Völklinger IG Metall hatte die alte Losung der Arbeiterbewegung auf ihr Transparent geschrieben. In der Metall-Tarifrunde stehen die Zeichen klar auf Streik. Morgen sollen zum Beispiel bei Ford in Saarlouis die Bänder stillstehen. Der DGB-Landesvorsitzende Eugen Roth appellierte an die Arbeitgeber, "wirtschaftlich vernünftig" zu sein und auf die IG Metall, die 6,5 Prozent mehr Geld fordert, zugehen. "Die Portemonnaies der Arbeitnehmer" müssten "etwas spüren von höheren Umsätzen und Gewinnen".

Frank Bsirske, Bundesvorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, holte in seiner Rede noch weiter aus. Er kritisierte scharf die Regierungen Deutschlands und Frankreichs für ihren Umgang mit der Schuldenkrise. "Die herrschende Politik von 'Merkozy' führt in eine europäische Wettbewerbsunion der niedrigsten Löhne, der niedrigsten Unternehmenssteuern und sozialen Standards", schimpfte Bsirske. Der wirtschaftliche Niedergang der südeuropäischen Länder "kann uns nicht kalt lassen", sagte er. Schließlich sei die deutsche Exportwirtschaft zu 60 Prozent vom Handel mit den EU-Ländern abhängig. Bsirske rief die Bundestagsfraktionen auf, den Fiskalpakt abzulehnen. Dieser, der den europäischen Ländern eine strenge Haushaltsdisziplin abverlangt, müsse neu verhandelt werden.

"Eine Überdosis Sparen macht alles nur noch schlimmer", warnte Bsirske und forderte eine "eine europaweite Investitionsoffensive". Und in Deutschland "ist es ein Gebot der Stunde, den Binnenmarkt zu stärken". Dafür "müssen die Löhne wieder stärker steigen als in den vergangenen Jahren" sagte er und forderte die Arbeitnehmer dazu auf, in den anstehenden Tarifrunden mächtig Druck zu machen.

So nach vorn blicken konnte Hans-Jürgen Becker, Betriebsratschef des Bergwerks Saar, nicht mehr. Für ihn und seine Kollegen war es die letzte Maikundgebung vor dem Ende des Saar-Bergbaus Ende Juni. Er bezeichnete das Ja der früheren Landesregierung unter Ministerpräsident Peter Müller zum Ausstieg aus dem Bergbau als "politische Fehlentscheidung". Becker warnte vor Industriefeindlichkeit, wie sie in Folge der Grubenbeben dem Bergbau zugesetzt habe. "Wenn wir nicht an unseren industriellen Arbeitsplätzen festhalten, wird das Saarland zum Auswanderungsland." Berlin. Gegen den strikten Sparkurs in Europa, für einen Mindestlohn in Deutschland: Zum Tag der Arbeit sind am 1. Mai in ganz Deutschland Hunderttausende Bürger auf die Straße gegangen. Allein der Deutsche Gewerkschaftsbund zählte rund 420 000 Menschen bei seinen mehr als 400 Kundgebungen. Michael Sommer, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), prangerte auf der zentralen Kundgebung in Stuttgart die aufs Sparen fixierte EU-Politik der Bundesregierung und die rigiden Sozialkürzungen in vielen Euro-Krisenstaaten an. Europa dürfe nicht "kaputtgespart" werden, nötig sei jetzt ein "Marshall-Plan" mit Investitionen in Milliardenhöhe, sagte er. Dafür müssten nun "die Steuern für Reiche endlich wieder rauf".

Mit Blick auf die Millionen Beschäftigten mit Niedriglöhnen in Deutschland forderte Sommer die Bundesregierung auf, endlich den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro in der Stunde einzuführen. "8,50 Euro die Stunde - das ist Beton. Darunter geht gar nichts", sagte er. Der DGB-Chef pochte außerdem auf Lohnerhöhungen für alle. "Nach Jahren von Reallohn-Verlusten in vielen Bereichen unserer Wirtschaft, nach Jahren der gemeinsamen Anstrengungen, dieses Land durch die Krise zu führen, Firmen und Arbeitsplätze zu retten, sind wir jetzt dran." dapd

Meinung

Bis an die Grenze

Von SZ-RedakteurVolker Meyer zu Tittingdorf

Lässt man die gewerkschaftliche Kampfrhetorik mal beiseite, bleiben doch wichtige Forderungen übrig. Verdi-Chef Frank Bsirske hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass Deutschland die Krise im Süden Europas nicht kaltlassen kann. Sparen allein reicht nicht. Das ist aber kein Freibrief für Konsumförderung auf Pump. Vielmehr braucht es ein Investitionsprogramm mit Langzeitwirkung. Daneben können in Deutschland aber auch die Tarifparteien etwas bewegen, um Europas Krise einzudämmen. Selten zuvor war die Binnennachfrage in Deutschland so wichtig für die Konjunktur. Die Arbeitgeber tun bei aller berechtigter Zurückhaltung angesichts des globalen Wettbewerbs gut daran, in den Tarifrunden an ihre Grenzen zu gehen. Höhere Löhne sind ein Mittel, um die dramatisch nachlassende Nachfrage aus anderen Teilen Europas auszugleichen.

Hintergrund

Die Deutschen leisten heute trotz kürzerer Arbeitszeiten mehr als noch vor zwei Jahrzehnten. Je Erwerbstätigem sei die Arbeitsproduktivität zwischen 1991 bis 2011 um fast ein Viertel (22,7 Prozent) gestiegen, teilte das Statistische Bundesamt mit. Gleichzeitig fiel die Zahl der Arbeitsstunden pro Kopf um neun Prozent. Auf die Arbeitsstunde gerechnet habe die Produktivität seit 1991 durchschnittlich sogar um 34,8 Prozent zugenommen. afp

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort