Leitartikel Warum die EU gegen Polen richtig, aber riskant handelt

Diese Entscheidung war überfällig – auch wenn sie nichts verändern dürfte. Die Europäische Kommission ist kein politisches Gremium, das nach eigenen strategischen Maßstäben den Daumen über einen Mitgliedstaat heben oder senken kann. Sie hat die Einhaltung der Verträge und damit auch die von den Mitgliedstaaten vereinbarten Verfahren zu überwachen – und durchzusetzen. Fast zwei Jahre lang hat sich die polnische Regierung mit ihren Reformplänen den Mahnungen aus Brüssel widersetzt. Nun wird sie dem Strafverfahren unterworfen, das ihre Vertreter vor zehn Jahren selbst mitbeschlossen haben. Das ist richtig, weil es sich die EU nicht leisten kann, wenn die demokratische Gewaltenteilung in den eigenen Reihen ad absurdum geführt wird. Die faktische Aufhebung der Regierungskontrolle durch eine unabhängige Justiz gehört zu den Grundelementen eines Rechtsstaates.

ÜS
Foto: SZ/Robby Lorenz

Natürlich wiegt der nun begonnene Weg, der mit einem Entzug der Stimmrechte enden kann, schwer. Polen würde in einem solchen Fall europäisch entmündigt und der Führung durch die Mitgliedstaaten unterstellt. Niemand braucht viel Fantasie, um sich auszumalen, welche Ressentiments PiS-Parteichef Jaroslaw Kaczynski dann gegen Brüssel, Berlin und Paris schüren wird. Dass am Ende nicht einmal mehr der Austritt aus der Union tabu sein könnte, wäre keine Überraschung. Darf und kann Europa das wollen?

Die Kommission sitzt dennoch zwischen den Stühlen. Denn auch wenn ihr Vorgehen richtig und konsequent bleibt, geht sie ein hohes Risiko ein. Sie weiß genau, dass die Gefahr ihres Scheiterns jederzeit präsent ist. Mehr noch: Brüssel hat die Entscheidung für die schärfste Option im EU-Recht sogar getroffen, obwohl man weiß, dass spätestens die letzte Stufe nicht mehr gezündet werden kann, weil die Einstimmigkeit in den Reihen der Regierungen schlicht nicht vorhanden ist. Diese Vorstellung erscheint allerdings abenteuerlich, weil unterm Strich zwei Länder mit demokratischen Defiziten sich gegenseitig schützen können. Die wichtigste Brüsseler Behörde wäre als ohnmächtig entlarvt, weil ihr das Pulver im Kampf gegen Rechtsstaats-Verstöße ausgeht.

Tatsächlich steht die Kommission jetzt mit leeren Händen da. Sie hat ein Strafverfahren in Gang gesetzt, das Polen vor aller Welt als ein Land blamiert, dessen demokratische Reife infrage steht. Von jetzt an müssen andere EU-Gremien beweisen, ob sie hinter der EU-Verwaltung stehen oder nicht. Im letzteren Fall würden die Mitgliedstaaten ihre Aufgabe als kollektive Wächter und Hüter demokratischer Grundwerte aufgeben. Denn eine Kommission, die sich nicht mehr durchsetzen kann, muss auch niemand mehr fürchten. Dann wird in Zukunft jeder machen dürfen, was er will. Polen hat also erreicht, was es wollte: Es fordert die Stärke der europäische Institutionen heraus. Der Preis dafür wird hoch sein: Entweder Warschau verliert oder die EU. Beides wird für die Gemeinschaft tiefgreifende Folgen haben.

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