Leitartikel Warum es keinen Weg zurück in die 60er Jahre gibt

Einerseits wird der Beschluss der „Werteunion“ vom Wochenende medial maßlos überschätzt. Die breite Berichterstattung hat mit dem Nachrichtenloch um Ostern herum zu tun; die Truppe aus CDU- und CSU-Mitgliedern ist total unwichtig, kein führender Politiker gehört ihr an. Andererseits aber spürt man natürlich auch angesichts der Äußerungen prominenterer Christdemokraten wie derer von Jens Spahn, dass da etwas am Gären ist: Die Union ist ganz ähnlich wie die SPD – die dortigen Debatten um Hartz IV zeigen das – auf der Suche nach ihrer Identität.

Leitartikel: Warum es keinen Weg zurück in die 60er Jahre gibt
Foto: SZ/Roby Lorenz

Freilich, diese Identität wird nicht die der 1960er Jahre sein können. Die Rezepte der Unions-Konservativen zeugen genau wie die der SPD-Linken von der Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als Mutti noch kochte, während Vati nach getaner Industriearbeit Werner Höfers Frühschoppen schaute, in dem ausschließlich Männer saßen, die alle rauchten. Diese Zeit kommt allerdings nicht wieder. Mutti kocht nicht mehr, „Mutti“, das ist der Spitzname von Bundeskanzlerin Angela Merkel, regiert jetzt dieses Land, und zwar recht souverän schon seit nunmehr zwölf Jahren. Die Welt ist eine andere geworden. In manchem besser, in manchem schlechter.

Viel sozialer Zusammenhalt ist durch Leistungsdruck verloren gegangen, manches gute Essen durch Fastfood, und manche Heimat wurde Industrieansiedlungen, Autoschneisen oder der Gentrifizierung geopfert. Da waren CDU und CSU übrigens selten ein Hemmschuh, eher schon die Grünen. Was noch alt ist, verändert die digitale Revolution. Weil all das so unabänderlich scheint, lenkt sich der Blick auf Nebenthemen wie Flüchtlinge und Kopftücher. Eine Ersatzhandlung.

Abtreibungsverbot, deutsche Leitkultur, höhere Militärausgaben, Abschaffung der Gesamtschulen, Ende der Energiewende, geschlossene Grenzen – eine „Werteunion“ käme bei Wahlen vielleicht auf 20 Prozent. Von denen allerdings einen beträchtlichen Teil schon die AfD als Wähler erreicht hat. Den Kanzler stellen kann man mit so etwas jedenfalls nicht. Das Problem aller „identitären“ Programme, ob der SPD-Linken oder jetzt der CDU-Konservativen, ist, dass sie keine Mehrheit finden würden, wenn man sie in Reinkultur wählen könnte. Weil es die Strukturen, die ihnen einst zugrunde lagen, längst nicht mehr gibt. Der SPD ist die Arbeiterklasse verloren gegangen, der Union die katholisch-bäuerliche Wählerschaft. In Ungarn mag eine Partei wie Viktor Orbans Fidesz ankommen, in Polen ähnlich, aber dort ist die Demokratie noch jung, und die Leute sind noch anfällig für billigen Nationalismus. In Deutschland funktioniert das so aber nicht, die Gesellschaft denkt in ihrer Mehrheit viel komplexer – weil sie komplex ist. Deshalb hat Angela Merkel Recht, wenn sie immer wieder nach der „Mitte“ sucht und nach neuen Antworten auf neue Fragen. Genauso wie die künftige SPD-Chefin Andrea Nahles. Ein markantes Profil bei ausgewählten Einzelthemen ist da übrigens nicht ausgeschlossen.

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