Leitartikel Löws Selbstanklage müssen jetzt Taten folgen

War sie jetzt gut oder grottig, die mit Spannung erwartete WM-Analyse von Joachim Löw zwei Monate nach dem Debakel? Fakt ist: Der seit 14 Jahren amtierende Bundestrainer überzeugte mit einer Generalanklage in eigener Sache.

Offene Selbstkritik bei WM-Analyse von Bundestrainer Löw
Foto: SZ/Robby Lorenz

Offen wie nie sprach er über seine persönlichen Fehler und die ellenlange deutsche Mängelliste beim historischen Vorrunden-Aus. Fachlich hatte das alles Hand und Fuß. Die Idee des Ballbesitzfußballs ist tot, auch mehr als 60 Prozent Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte halfen in Russland nichts. Zu wenig Tempo, zu wenig Leidenschaft, keine Geradlinigkeit, keine Effizienz im Abschluss, all das war auch für die Fans deutlich zu sehen.

Es waren harte und klare Worte, auch wenn Kritiker Löw angesichts der emotionalen Causa gewiss Worthülsen vorwerfen werden. Sogar einen Anfall von Arroganz nach dem WM-Triumph 2014 räumte der Bundestrainer ein. Zudem kamen neben taktischen Defiziten Mängel in der Mannschaftsführung zur Sprache. Auch die Selbstkritik von Manager Oliver Bierhoff in Bezug auf zu wenig Fannähe und zu viel Kommerz klang gut, sie darf aber nur ein Anfang sein.

Doch die Sache ist komplizierter. Berichte über Antonio Rüdiger, der mit einer Shisha-Pfeife ins Trainingslager kam, Grüppchenbildung zwischen „Kartoffeln“ und „Kanaken“ oder ausufernde Videospiel-Abende werfen ein Schlaglicht auf den Charakter mancher Spieler. Solche Attitüden machten Löw die Arbeit zusätzlich schwer. Zum Thema Charakter passt auch, dass Mesut Özil nach seinem mehr als fragwürdigen Abgang mit falschen Rassismus-Vorwürfen bislang nicht einmal den Anstand hat, auf SMS-Nachrichten oder Anrufe Löws zu reagieren.

Im Erfolg werden die größten Fehler gemacht. Und so erwies sich die begeisternde WM 2014 mit dem Titelgewinn und dem 7:1 im Halbfinale gegen Brasilien quasi als Menetekel – danach setzten die allermeisten Gegner vornehmlich auf Verteidigung, warteten ab und überließen Deutschland das Spiel.

Bei dieser Weltmeisterschaft in Russland ist so ziemlich alles schiefgelaufen, was schieflaufen kann. Daher ist es verfrüht und völlig fehl am Platze, jetzt schon das Totenglöckchen für den deutschen Fußball zu läuten. Denn genügend Talente gibt es, das zeigten im Vorjahr die Titel beim Confed-Cup und bei der U21-Europameisterschaft. Und auf die Kritik am „Umbruch light“ mit nur drei Neuen für die nächsten Länderspiele ist zu entgegnen, dass uns auf dem absoluten Weltniveau derzeit die Ausnahmekönner fehlen. Die aufstrebenden junge Profis sind noch lange nicht so weit wie bei Weltmeister Frankreich, um schon die Generation um Boateng, Hummels, Müller und Kroos zu ersetzen.

Joachim Löw und seine Mannschaft sind nun gefordert, den angekündigten Neustart mit Leben und Leidenschaft zu füllen. „Jetzt erst recht!“, muss, wie gestern vom Bundestrainer angekündigt, das Motto der nächsten Monate werden. Vielleicht ist Frankreich im ersten Spiel nach dem WM-Gau genau der richtige Gegner – um zu zeigen, dass es auch anders geht. Viel, viel besser als in Russland.

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