Wie sieht Realismus im Ausnahmezustand aus?

Eine Begegnung mit der französischen Autorin Karine Tuil, deren neuer Roman ein Gesellschaftsporträt ihres krisenhaften Landes ist.

Karine Tuil erwartet uns am Eingang des Pariser Cafés Le Hibou an einer Ecke im 6. Arrondissement. Wir wollen mit ihr über "L'Insouciance" sprechen, ihren jüngsten Roman, der in diesen Tagen in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Die Zeit der Ruhelosen" erschienen ist (Ullstein Verlag). Er war für den Prix Goncourt nominiert und zeigt die Probleme des verunsicherten Frankreichs. Das Ende der Sorglosigkeit, nachdem der Terrorismus auch das Kernland von Freiheit und Toleranz erreicht hat. In Tuils Roman ist es der Milliardär François Vély, der für seine Sorglosigkeit büßen muss. Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat von Aimé Césaire: "Nègre je suis, nègre je resterai". Das gilt auch für einen anderen Protagonisten von Tuils Buch, den schwarzen Franzosen Osman Diboula. Der ergreift in einem flammenden Artikel in "Le Monde" Partei für François. Aber auch sein Erfolg ist letzten Endes seiner Hautfarbe geschuldet, einem subtileren Rassismus. Dass dieser sich bei einem Wahlerfolg von Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen verstärken wird, ist Karine Tuils große Sorge.

Die Handlung Ihres Romans spielt in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus. Beim Lesen gewinnt man den Eindruck, dass Sie alles gesehen und auch erlebt haben. Wie machen Sie das?

Tuil: Ich habe etwa über Auslandseinsätze französischer Soldaten gelesen und dann mit einzelnen Zurückgekehrten lange gesprochen, ihren Jargon gehört, mir ihre Erlebnisse erzählen lassen. Wenn ich als Schriftstellerin schreibe, wird daraus keine journalistische Dokumentation sondern ein realistische Erzählung. Das mache ich bei allen anderen Schauplätzen und Themen genauso.

Also waren Sie auch in der Banlieue, haben die Krankenhäuser aufgesucht, mit Psychiatern gesprochen und kennen auch den Club "Cercle de l'Union Interalliée", in dem hinter für Normalsterbliche geschlossenen Türen sich die Spitzen der High Society treffen?

Tuil: Ja. Ich arbeite mich immer erst in die einzelnen Themenfelder ein. Die Banlieue kenne ich aus eigenem Erleben gut, habe aber trotzdem noch während der langen Vorbereitung zu dem Buch mit vielen Menschen von dort gesprochen. Man sagt, sie hätten 2005, als alles zu explodieren drohte, nicht einmal politische Forderungen gestellt. Das stimmt nicht. Sie wollten und wollen Gleichheit, gleiche Chancen, keine Diskriminierung - nirgendwo! Auch mit den Menschen aus allen anderen von mir behandelten Themenbereichen versuche ich ins Gespräch zu kommen, erst dann kann ich darüber schreiben. Die einzelnen Personen und Geschichten in meinem Roman sind frei erfunden, reine Fiktion. Aber sie spielen in der wirklichen Welt, sind oft schonungsloser Realismus. Jeder wird die gegenwärtige, aus den Fugen geratende Welt, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Politik in Frankreich und anderswo wiedererkennen.

Nehmen Sie den Skandal um das Foto von François: Mit meiner Roman-Szene, in der der Milliardär François Vély einen Skandal auslöst, weil er sich für eine Hochglanz-Revue auf einer Sessel-Skulptur ablichten lässt, die eine Schwarze in entwürdigender Körperhaltung darstellt, greife ich auf ein authentisches Beispiel aus der Realität zurück. Einen solchen Skandal im Umfeld des russischen Oligarchen Roman Abramowitsch hat es vor ein paar Jahren tatsächlich gegeben. Ein Skandal, der riesige Entrüstung ausgelöst hat.

Sie legen Finger in viele Wunden. Welche schmerzen am meisten?

Tuil: Nicht erst seit den Präsidentschaftswahlen und der Gefahr, dass Marine Le Pen gewinnt, ist der verdeckte und immer dreister öffentlich propagierte Antisemitismus ein Skandal. Ist es auch der Rassismus gegen die Immigranten, die "sans papiers". Ist es die fehlende Gleichbehandlung der Menschen aus der Banlieue. Sogar der öffentliche Nahverkehr aus diesen Vororten in die glitzernde Metropole ist stark eingeschränkt. Das "offizielle" und wohlhabende Paris will die Menschen von dort hier gar nicht sehen. Eine Wunde ist auch, dass die arrivierten Politiker aus allen Lagern irgendwie aus demselben "Stall", den Grandes Écoles, stammen. Sie werden regelrecht formatiert und entfernen sich dadurch immer stärker vom Volk, dem Souverän. Wissen Sie, eine Frage hat mich schon immer sehr beschäftigt: Was wird mein Platz in der Gesellschaft sein? Meine Eltern sind jüdische Emigranten aus Tunesien. Sie kamen in den 50ern nach Frankreich, das meine Heimat ist und wo ich 1972 in der Pariser Banlieue geboren und im jüdischen Glauben erzogen wurde.

Neben drei Männern aus ganz unterschiedlichen Milieus haben Sie nur einer Frau, Marion, eine Hauptrolle zugewiesen. Spielt Ihr Roman in einer Männerwelt?

Tuil: Unsere Welt ist immer noch ganz überwiegend eine Männerwelt. Marion stammt aus einfachen Verhältnissen, kämpft sich in ihrem Beruf als Journalistin und Autorin etwas empor und lernt den Milliardär François kennen, der sie unbedingt heiraten will. Sie wird dessen dritte Frau, obwohl sich die zweite, von François geschiedene Frau, kurz vor der Hochzeit aus dem Fenster stürzt. Marion ist noch dazu in einen aus Afghanistan heimkehrenden Soldaten verliebt. Sie hat beiden Männern gegenüber ehrenwerte Skrupel, kümmert sich um die verwaisten Kinder des François Vély. Sagt viele vernünftige Dinge. Ist sie nicht die eigentliche Heldin des Romans?

Den Selbstmord der zweiten Frau von François beschreiben Sie ganz brutal knapp. Die auf Video übertragene Enthauptung von François bereiten Sie dramaturgisch virtuos vor. Warum diese Unterscheidung?

Tuil: Das ist eben der Realismus, von dem wir sprachen. Eine verzweifelte Frau handelt auf eine vernichtende Frage ganz konsequent, sie muss nicht überlegen. Die perfiden Terroristen überlegen dagegen ganz genau, wie sie einen lange geplanten Mord besonders grausam inszenieren können. Der Terrorismus hat 2001 in New York begonnen und bestimmt in Paris immer noch unser Leben. Es ist ein Leben im Ausnahmezustand.

Das Gespräch führten Johanna Reinicke und Harald Loch

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