Ophüls-Festival: Die letzten Wettbewerbsdokus Was unter die Haut und ans Herz geht

Saarbrücken · Das Beste kommt zum Schluss: Die letzten anlaufenden Dokus im Ophüls-Wettbewerb sind die Ausgereiftesten.

 In dem Hotelzimmer, in dem sich ihr Bruder in Porto das Leben nahm, liegen seine vier Brüder (rechts Regisseur Stefan Bohun) auf dem Bett.

In dem Hotelzimmer, in dem sich ihr Bruder in Porto das Leben nahm, liegen seine vier Brüder (rechts Regisseur Stefan Bohun) auf dem Bett.

Foto: Mischief Films

Zu den bezwingendsten Dokus im Ophüls-Wettbewerb zählt „Global Family“ (heute: 19.45 Uhr, CS 2; Fr: 15 Uhr, CS 2; Sa: 12.30 Uhr, CS 4; So: 16 Uhr, CS 5) von Andreas Köhler und Melanie Andernach. Am Beispiel einer über mehrere Kontinente verstreuten somalischen Familie, die ihr Land vor 30 Jahren in den damaligen Bürgerkriegswirren verlassen musste, erzählt der Film in eindringlichen Bildern vom Los heutiger Flüchtlinge. Im Fokus stehen drei Brüder – Shaash, früher ein Soccer-König in Somalia und heute in Deutschland lebend, sein sich in Mailand als Mittelloser durchschlagender Bruder Aden und als Dritter im Bund Abdulahi, der mit der Mutter und seiner Familie seit vielen Jahren in Äthiopien in einem Slum der Hauptstadt Addis Abeba gestrandet ist.

Shaahs Tochter Yasmin versorgt mit ihren Sozialleistungen, die sie in Deutschland bezieht, nachdem sie selbst und ihre beiden kleinen Kinder dort bei einem Brandanschlag 2012 schwere Verbrennungen davon getragen hatten, mehr oder minder die gesamte Familie. Wie der Film die einzelnen Schicksale der Familienmitglieder (die drei Brüder, Yasmin, die 90-jährige Mutter und deren sie versorgende 17-jährige Enkelin) ineinanderfließen lässt und beständig die Zeitebenen überblendet, das ist schlicht famos. Als sich Shaah als Familienoberhaupt mit seiner Tochter und deren Kinder nach Adis Abeba aufmacht, offenbart sich, wie sehr die Familie durch ihr Flüchtlingslos letztlich schachmatt gesetzt wird und die familiären Bande auseinanderdiffundieren – ein sehenswerter, glänzend fotografierter und untergründig durchaus politischer Film.

„Bruder Jakob, schläfst du noch?“ (heute: 22.15 Uhr, CS 2; Fr: 12.30 Uhr, CS 8; Sa: 14.45 Uhr, CS 5; So: 20.30 Uhr, ­CS 5) ist ein unter die Haut gehender, intimer, wunderbarer Nekrolog. Zwei Jahre nach dem Tod von Jakob, der mit seiner portugiesischen Frau und seinen über alles geliebten zwei Töchtern als Anästhesist in Porto lebte, begibt sich der Filmemacher Stefan Bohun darin mit seinen drei anderen Brüdern an die Orte, die Jakob gemocht hat oder an denen er lebte – und starb. In Porto liegen sie im Ibis-Hotel zu Viert auf dem Bett des Zimmers, in das sich Jakob zum Sterben zurückzog. Zuvor erspart uns Brohun nicht die Aufnahme der Überwachungskamera, die ihn in der Lobby beim Einchecken zeigt – das letzte Dokument seines Lebens.

Ganz am Ende besteigen die Brüder in Tirol den Berg, den ihr Bruder zwei Wochen vor seinem Freitod als „Ort meiner Träume“ bezeichnet hatte. Oben angekommen, brechen sie in Tränen aus. Ihre Reise zieht für die „Brohun Bros.“ (so lautet der eingestickte Namenszug auf ihren alten Adidas-Sportjacken, die sie zwischendrin tragen) die Aufarbeitung ihrer jeweiligen Binnenverhältnisse nach sich – vor allem die Konflikte mit dem Ältesten (Matt­hias). Einander liebende, aber auch untergründig miteinander konkurrierende „Einzelkämpfer“ wurden sie nach der frühen Trennung der Eltern und ihrem Aufwachsen „in chaotischen Verhältnissen“, erfährt man. Im Zentrum des elegischen Films steht die Frage, weshalb Jakob keinen Ausweg mehr sah. Und keiner seiner Brüder von ihm ins Vertrauen gezogen wurde oder ihm helfen konnte. Spürbar wird ihre Trauer und manchmal auch Wut, dass er sich einfach davon gemacht hat. Brohun gelingt (auch dank seines exzellenten Kameramanns Klemens Hufnagl) eine ungemein dichte Film-Komposition, die immer wieder Briefauszüge und alte Super-8-Aufnahmen mit Szenen ihrer 2016, zwei Jahre nach Jakobs Tod, unternommenen Spurensuche mischt: Mal sieht man Jakob im Rückspiegel auf einer Autofahrt durch Portugal, während aus den Boxen Gary Moores „Still got the blues“ dröhnt. Dann seine Brüder auf einer Wanderung durch das Tiroler Lareintal, das er wenige Tage vor seinem Freitod als neues Profilbild seines Whatsapp-Accounts wählte. Mal erzählt eine portugiesische Kollegin von Jakobs Melancholie und Andeutungen; mal sieht man die Brüder in einem OP-Saal, wie sie Tom Waits’ „You’re innocent when you dream“ als A-Capella-Nummer singen. Ein sehr subtiler, bewegender Film.

Von einem Salon-Theater in Taunus­stein wussten wir bis dato nichts. Jetzt aber müsste man da mal hin. Inigo Westmeiers sehenswerte Doku „Ins Ungewisse“ (Fr: 20 Uhr, CS 2; Sa: 10 Uhr, CS 5; Sa: 17.30 Uhr, FH; So: 15 Uhr, CS 8) macht Lust darauf. Westmeier (Regie, Kamera und Buch-Ko-Autor) gelingt damit ein großer Theaterfilm, den man allen ans Herz legen kann, die Theatergänger sind oder dort wirken. Kunstvoll verzahnt „Ins Ungewisse“ drei Erzählebenen: Die Doku zeigt die für die Schauspieler an die Substanz gehenden Proben zu einer Bühnenfassung von Erich Maria Remarques Emigrantenroman „Die Nacht von Lissabon“ von 1962. Parallel dazu dreht Westmeier mit den Beteiligten eine Filmfassung einiger Schlüsselszenen und füttert seine Doku dazu beständig mit Interview­passagen, in denen die Schauspieler und der diktatorenhaft agierende Regisseur Mikhail Levitin, künstlerischer Leiter des Moskauer Theaters Herimitage, ein ums andere Mal Bilanz ziehen.

Was daraus entsteht, ist ein beständiger Dreiklang, mittels dessen Westmeier das Kunststück gelingt, tief ins Herz des Bühnenlebens vorzudringen. Während der autoritäre Levitin das Ensemble triezt und schindet („Die sind zu nichts nutze“, kanzelt er sie anfangs ab, um alles aus ihnen herauszuholen), sinnieren die Schauspieler – von denen einige als Kind aus Russland hierher kamen – über Selbsterkennungsprozesse, Wahrhaftigkeit und die Stückbezüge zu ihrer eigenen Biographie. Remarques Roman erzählt von einem Emigranten, der am Ende seiner Flucht vor den Nazis einem Unbekannten zwei Überseetickets verspricht, wenn dieser ihm eine Nacht lang zuhört. Levitin und sein Ensemble machen daraus, so viel zeigen die Probenszenen, ein existenzielles Stück über elementare Lebensfragen. Und Westmeier daraus einen Film, der eine große, aber nie wohlfeile Hommage an die Welt des Theaters ist.

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